Warum der Dialog mit ZeitzeugInnen immer Konjunktur hat
„Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“
Mahatma Gandhi
„An die Geschichte verweise ich euch. Forscht in ihrem belehrenden Zusammenhang nach ähnlichen Zeitpunkten und lernt den Zauberstab der Analogie gebrauchen.“
Novalis
Eine Zeugenaussage führte zum Todesurteil
Am 7. April 1945 verhafteten SS-Männer seinen Vater, einen Birkfelder Arzt. Vermutlich rund um den 12. April 1945 wurde der fünffache Familienvater ermordet. Wenige Tage davor fiel ein weiterer Birkfelder dem Erschießungskommando der Nazis zum Opfer. Erst nach 51 Jahren wagte es eine kommunale Gedenkinitiative, diesen beiden Opfern der Endphase des NS-Regimes ein Denkmal in Birkfeld zu setzen. Mit dieser tragischen Familiengeschichte stellte sich der Sohn des ermordeten Arztes, DI Herbert Teuschel, beim ZeitzeugInnenseminar der ARGE Jugend am 15. März 2017 vor.
Todesurteil wegen fünf Reichsmark für die „Rote Hilfe“
Eine Spende von fünf Reichsmark für die „Rote Hilfe“, einem Unterstützungsnetzwerk für politisch Verfolgte während der NS-Zeit, bedeuteten das Todesurteil für den Ofenmaurer und vierfachen Vater aus der Obersteiermark. Das Urteil wurde am 2.2.1945 vollstreckt. Die Witwe und Mutter musste ihre vier Kinder durchbringen, stets geächtet von den nach 1945 wieder zu Einfluss gekommenen ehemaligen Nazis. Der Sohn des Ermordeten, Willie Bauer, arbeitet heute im KZ-Verband und in der ARGE Jugend als Zeitzeuge mit. Er will diese als Kind erlebten unvorstellbaren Lebenserfahrungen an die Jugend weitererzählen. Den Anfängen wehren! Dies ist eine wichtige Triebfeder seines Engagements.
Das Kriegsende rettete einen zum Tode Verurteilten
„Euer Vater wird erschossen werden!“ Diesen Satz schmetterte ein SS-Mann den beiden Töchtern entgegen, als sie am Polizeiposten Graz, Paulustorgasse, nach seinem Verbleib fragten. Doch das Kriegsende rettete dem Vater das Leben in buchstäblich letzter Sekunde. Ein in die USA emigrierter Onkel, dessen Angehörige in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet worden waren, unterstützte nach 1945 die gesamte Familie mit Sachgütern und Geldspenden, wie unsere Zeitzeugin Gertrude Horst voll Stolz und Anerkennung berichtete. Sie hatte ein Heft mit, in welchem alle zugesandten Güter des hilfsbereiten Onkels aus Amerika penibel aufgelistet sind, dazu noch ihr persönliches Haushaltsbuch der 1940er und 1950er Jahre, in der alle Lebensmittel und Anschaffungen mit Sorgfalt verbucht sind.
Erzählte Geschichten als erinnerndes Eingedenken an die Opfer
Alle drei Familiengeschichten zeigen in beklemmender und berührender Weise, wie das NS-Terrorsystem in seiner unbegrenzten Gewaltbereitschaft den privaten Raum mit Spitzel- und Denunziantentum, mit Einschüchterung, Terror und Mord infiltrierte. Die ZeitzeugInnen sind sich einig, dass diese prägenden Geschichten nicht dem Verdrängen und Vergessen anheim fallen dürfen. Im Modus von Erzählen und Zuhören repräsentieren diese Geschichten zum einen ein „erinnerndes Eingedenken an die Opfer“. Zum anderen sind sie eine mehrschichtige, berührende Reflexionsfolie für eine dialogische Demokratie- und Menschenrechtsbildung mit den jüngeren Generationen.
ZeitzeugInnenarbeit endet nicht 1945!
Doch die ZeitzeugInnenarbeit verharrt in der ARGE Jugend freilich nicht in der NS-Zeit. Längst erfassen die intergenerativen Dialogveranstaltungen die Zeit nach 1945 bis in die abgelaufenen Dekaden nach der Jahrtausendwende. Das mehrfache Erinnerungsjahr 2018 bietet mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, mit den europäischen Studentenrevolten 1968, mit der Anti-Atomkraftbewegung 1978 oder mit dem Gedenkjahr 1938/1988, als das offizielle Österreich sich erstmals im größeren Zusammenhang der verdrängten NS-Geschichte stellte, zahlreiche Anknüpfungspunkte für den intergenerativen Dialog. Der mittlerweile ausdifferenzierte zeitgeschichtliche Forschungsstand braucht das narrative Wissen von ZeitzeugInnen als „lebendige Kolorierung“, um die strukturellen Mechanismen und Prozesse von Geschichte möglichst anschaulich und nachvollziehbar zu machen. Umgekehrt braucht der ZeitzeugInnendialog die zeitgeschichtliche Forschung als Rahmung und Relativierung von subjektiven Geschichtsbildern. Diese notwendige Verschränkung von wissenschaftlichem Wissen mit narrativem Wissen führt zum durchgängigen Projektmotto sämtlicher Erinnerungs- und Gedenkprojekte der ARGE Jugend: „Jugendliche im Dialog mit ZeitzeugInnen und HistorikerInnen“. Das eine führt nur in der Verschränkung mit dem anderen zu einem tieferen Verständnis von Geschichte in ihren Auswirkungen auf die Gegenwart. Der Grazer Historiker Mag. Franz Stangl hat es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, das überlieferte Wissen und die Erfahrungen der ZeitzeugInnen als Audio- und Videointerviews für die Nachwelt zu sichern und seine Expertise in Gedenkprojekte einzubringen.
Wer entscheidet, ob bzw. wann Gandhis oder Novalis´ Bonmot zur Geschichte zutrifft?
Ob bzw. unter welchen Umständen Gandhis Bonmot zutrifft, wonach die einzige Lehre der Geschichte darin bestehe, dass die Menschen aus ihr nichts lernen; oder ob Novalis´ Optimismus zutrifft, dass geschichtliche Forschung uns einen „Zauberstab der Analogie“ für die Zukunft an die Hand gibt: darüber entscheidet letztlich nur die Fähigkeit, das Interesse und die Motivation, sich mit Geschichte seriös zu beschäftigen und den Geschichten der ZeitzeugInnen gut zuzuhören! Christian Ehetreiber
Unsere Angebote zur Erinnerungs- und Gedenkarbeit
Wir laden interessierte Schulen, Gemeinden, Jugend-, Bildungs- und Sozialeinrichtungen herzlich ein, intergenerative Seminare, ZeitzeugInnendialoge wie auch Erinnerungs- und Gedenkprojekte zu entwickeln und umzusetzen. Motto: Zeitgeschichtliche Erinnerungsarbeit als Medium der politischen Bildung nutzen. Das mehrfache Gedenkjahr 2018 bietet dazu viele Ankerpunkte! Nähere Informationen und Beratung erhalten Sie von Mag. Bettina Ramp, 0664/18 51 278 oder unter bettina.ramp@argjugend.at Die Erstinformation ist kostenlos.
Links zu den Angeboten der ARGE-Erinnerungs- und Gedenkarbeit
Plattform Generationendialog Steiermark
Gedenklandschaft Die andere Steiermark
Ausstellung Wie entstehen autoritäre Regimes
BLOG-Texte zur Erinnerungsarbeit
Links zu befreundeten Einrichtungen der Erinnerungs- und Gedenkarbeit
http://www.erinnern.at/bundeslaender/steiermark