Seit dem 19. Jahrhundert wird das Phänomen der Legasthenie erforscht. Während es lange Zeit als Krankheit angesehen wurde, erkennt man heute, dass Legasthenie und Dyskalkulie keine Krankheiten, Behinderungen oder Schwächen sind. Vielmehr handelt es sich um eine besondere Informationsverarbeitung im Gehirn, die spezifische pädagogisch-didaktische Interventionen erfordert. Da immer noch viele Mythen um das Thema herumschwirren, wollen wir über dieses Thema aufklären und Tipps für die Unterstützung von legasthenen Kindern mitgeben. Dafür haben wir uns auch mit Lehrpersonen sowie einer ARGE Jugend Referentin/Lernförderungs-Expertin zu diesem Thema unterhalten.
Doch was ist überhaupt Legasthenie?
Legasthenie wird als eine Herausforderung beschrieben, bei der Menschen mit durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz ihre Umwelt, insbesondere Symbole wie Buchstaben und Zahlen, differenziert wahrnehmen. Dies führt zu Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens. Die pädagogische Förderung spielt daher eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung von Menschen mit Legasthenie.
Welche Ursachen gibt es dafür?
Legasthenie wird auf gengesteuerte Entwicklungsprozesse im Gehirn zurückgeführt, die die Sinneswahrnehmungen beeinflussen und das Lesen, Schreiben und Rechnen erschweren. Personen mit Legasthenie haben eine andere Informationsverarbeitung und Lernfähigkeit, die von Menschen ohne Legasthenie abweicht. Es entsteht eine vorübergehende Unaufmerksamkeit. Diese Unaufmerksamkeit beim Umgang mit Symbolen wie Buchstaben und Zahlen resultiert aus unscharfen Sinneswahrnehmungen und führt zu Wahrnehmungsfehlern. Etwa 15% der Weltbevölkerung sind schätzungsweise von Legasthenie oder Dyskalkulie betroffen. Wenn Legasthenie bereits in der Familie vorhanden ist, liegt die Wahrscheinlichkeit einer Weitervererbung zwischen 60% und 70%.
Unterschied zwischen Legasthenie und Lese- Rechtschreibschwäche (LRS):
Bei legasthenen Kindern sind die Wahrnehmungsfehler auf die differenten Sinneswahrnehmungen zurückzuführen, während bei Kindern mit LRS die Schwierigkeiten beim Schreiben und Lesen nicht auf diese Sinneswahrnehmungen zurückzuführen sind. LRS kann verschiedene Ursachen haben, wie beispielsweise Lerndefizite aufgrund von Krankheit, mangelnder Übung oder familiären Umständen.
Hilfe bei Legasthenie finden: Tipps und Ressourcen
Legasthenie kann für betroffene Kinder und ihre Eltern eine große Herausforderung darstellen. Es ist wichtig zu wissen, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, Unterstützung und Hilfe zu erhalten. Hier sind einige Tipps und Ressourcen, die dafür hilfreich sein können:
- Diagnose: Wenn Sie den Verdacht haben, dass Ihr Kind Legasthenie haben könnte, sollten Sie sich an Fachleute wenden, die auf Lernschwierigkeiten spezialisiert sind (z.B. Psycholog:innen, Ärzt:innen, Legasthenie- und Dyskalkulietrainer:innen).
- (Pädagogische) Unterstützung: Pädagogische Hilfe ist entscheidend für Kinder mit Legasthenie. Legasthenie- und Dyskalkulietrainer:innen können in der Schule den Lehrer:innen zur Seite stehen und individuelle Förderpläne erstellen, spezifische Lernstrategien zu entwickeln und geeignete Unterrichtsmaterialien bereitzustellen. Eine gute Zusammenarbeit zwischen Eltern, Lehrer:innen und Trainer:innen ist wichtig, um das Kind bestmöglich zu unterstützen. Eine Möglichkeit, qualifizierte Legasthenie- und Dyskalkulietrainer:innen zu finden, ist die Website: http://www.legasthenietrainer.com.
- Förderung und Geduld: Legasthene Kinder benötigen Verständnis, Geduld und gezielte individuelle Förderung. Sowohl Eltern als auch Lehrer:innen sollten ihr Kind liebevoll unterstützen und gelassener auf Misserfolge reagieren.
- Frühe Intervention: Je früher Legasthenie erkannt wird, desto besser können geeignete Maßnahmen ergriffen werden.
Auch im Gespräch mit unseren Befragten Lehrpersonen sowie der Expertin für Lernförderung haben wir das Thema aufgegriffen. Bei der Frage welchen Herausforderungen legasthene Schüler:innen im klassischen Schulunterricht gegenüber stehen, haben wir folgende Antworten bekommen:
Die größte Herausforderung laut der Lernförderungs-Expertin ist mit Sicherheit der Zeitfaktor. Legasthene Kinder brauchen für gewisse Lernprozesse einen anderen, zeitintensiveren Zugang. Daher wird viel Energie in diesem Bereich verbraucht, und somit sind die Kinder mit ihrer Konzentrationsspanne schneller am Ende. Weil gewisse Basissinne, wie zum Beispiel in der phonologischen Bewusstheit oder im Körperschema oder der Raumorientierung, nicht altersentsprechend sind, die wir aber als Werkzeug für das Lesen und Schreiben lernen benötigen, stehen die Kinder schnell unter Druck und Stress, welche ganz schlechte Begleiter für das Lernen sind. Mit dieser Überforderungssituation gehen die Kinder unterschiedlich um: sie werden zum Klassenkasperl, sind gedanklich abwesend, machen etwas anderes, oder stören den Unterricht in irgendeiner anderen Weise, das für den Klassenbetrieb nicht sehr förderlich ist. Außerdem erlebt das Kind selbst das Gefühl, nicht mithalten zu können, was sich wiederum für das Selbstvertrauen und die Motivation sehr schlecht auswirken kann.
Unsere befragte Integrationslehrerin hat zudem argumentiert, dass schriftliche Aufgabenstellungen einfach sehr viel Kraft und Konzentration erfordern. Allgemein werden im klassischen Unterricht oftmals mündliche Leistungen prozentuell weniger bewertet (z.B. zählen Schularbeiten oder Diktate mehr).
Eine weitere Lehrperson betont ebenfalls die schriftliche Komponente. Lesen und Schreiben braucht man so gut wie in jedem Fach. Demnach kann es sich schnell wie ein Lauffeuer verbreiten. Die Kinder haben wenige Erfolgserlebnisse, obwohl sie sehr viel tun. Die klassischen “Leseszenarien” kommen dann auch noch hinzu. Damit einhergehend ist dann oft Demotivation und Frust. Das Üben wird dann auch immer schwieriger, wenn Angst und Ablehnung vorhanden sind. Wodurch die Diagnose einen wesentlichen Stellenwert hat, da die Kinder oft nicht verstehen was eigentlich los ist.
Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Faktoren, um im Alltag und in der Schule gut mit Legasthenie umgehen zu können?
Die Expertin für Lernförderung nennt dabei folgende Punkte:
- geregelte Abläufe schaffen
- Arbeitsaufträge an die Leistung des Kindes anpassen und klar strukturieren
- Zeitspanne der Konzentration des Kindes berücksichtigen (Lebensalter mal zwei als Maß) und kurze Pausen einlegen (Bewegung, Wasser trinken, Nüsse, Obst Gemüse essen…)
- liebevolle Konsequenz
- sehr viel Lob
- sehr viele Sinne beim Lernen ansprechen (sehen, hören, fühlen…)
- immer nur mit den eigenen Fortschritten vergleichen, nie mit den der anderen Kinder
- sich die Stärken des Kindes bewusst machen, um diese in der Art und Weise wie gelernt wird, einzubauen
- mit positiven Gefühlen arbeiten
- mit Geschichten arbeiten
- mit der Loci Technik (merken über Orte) arbeiten
- mit der Memotechnik (Bilder) arbeiten
- an den Ursachen der Legasthenie (Basissinne siehe oben, Konzentrationsübungen und Lese-Rechtschreibtraining) arbeiten
Für die Integrationslehrerin ist insbesondere die Diagnose ein wichtiger Schlüsselbereich, welcher seitens der Eltern beim Übergang der Volksschule in die Unterstufe mitgegeben werden sollte. Dafür wichtig sei auch das entsprechend geschulte Lehrpersonal, die Ausbildungen zu den speziellen Förderungen besitzen und somit auch zum Beispiel im Kollegium über den Mythos aufklären können, dass Legasthenie keine Sache der “Intelligenz” ist. Der Unterricht sollte zudem auch laut ihr sowieso “vielsinnig” angeboten werden.
Auch die zweite Lehrperson betont die Wichtigkeit von Zeit, der visuellen Darstellung und einer stufenweisen Erarbeitung von Neuem. Zudem ist es ebenfalls wichtig einen positiven Umgang mit dem Kind zu finden und die Stärken zu stärken. Hilfreich sei auch das Thema in der Klasse anzusprechen und zu erklären was da los ist. Zusätzliche Förderstunden seien ebenso notwendig sowie allgemein mehr Information im Lehramtsstudium.
Welche Tipps und Tricks können von Eltern zuhause umgesetzt werden?
Wichtige Punkte laut der Expertin für Lernförderung sind:
- bei schwierigen Hausübungssituationen „Vertrag“ mit dem Kind abschließen, indem klare Regeln (z.B. eine halbe Stunde nach dem Essen mit der HÜ beginnen) aufgesetzt werden und dieses Verhalten mit einem Punktesystem belohnen
- Ordnung (in der Schultasche, im Heft, am Tisch, Schultasche packen für den nächsten Tag)
- Klar strukturierter Lernplatz, mit wenig Ablenkung (basteln z.B. auf einem anderen Tisch)
- Aufgabenheft
- geduldig sein, gut auf sich (als Eltern) schauen
- Gemeinsames Frühstück (längere Konzentration am Vormittag, kein Fernseher beim Frühstück)
- gute Vorbilder sein (Lesen, Medienzeit, Bewegung)
- Kinder in Vereine (Sport, Musik) integrieren, um einen Ausgleich zu schaffen
- sich bewusst machen, dass Legasthenie nichts mit der Intelligenz zu tun hat
Laut der Integrationslehrerin sollte zudem im sozialen Lernen die unterschiedlichen Voraussetzungen einer jeden Person (auch der Lehrpersonen) als solche thematisiert werden, da jede Person anders ist. Unterschiedliche Stärken und unterschiedliche Herausforderungen bedürfen verschiedener Methoden für Chancengleichheit und gegenseitige Akzeptanz. Angstfrei Fehler machen dürfen und Erfolge feiern, das gilt laut ihr für alle Kinder. Die zweite Lehrerin betont auch die Wichtigkeit von der Zusammenarbeit vom Lehrpersonal mit den Eltern, denn nur in der Schule allein kann der Bereich nicht abgedeckt werden.
Wie kann man Legasthenie erkennen?
Das Erkennen und Verstehen von Legasthenie ist entscheidend, um Kindern mit dieser Lernschwäche die nötige Unterstützung zu bieten. Zunächst ist festzuhalten, dass jede Legasthenie individuell ist und sich auf der Ebene des Lesens und Schreibens zeigt: Legasthene Menschen haben Probleme, das Lesen und Schreiben zu erlernen bzw. fehlerfrei zu lesen und zu schreiben. Eine mögliche Legasthenie kann durch den pädagogischen AFS-Test festgestellt werden, der von diplomierten Legasthenietrainer:innen oder Dyskalkulietrainer:innen durchgeführt wird und liefert Informationen über die Aufmerksamkeit, Sinneswahrnehmungen und Fehlermuster des Kindes. Eine frühzeitige Erkennung der Legasthenie ermöglicht eine individuelle Unterstützung und fördert die Entwicklung.
Symptome zeigen sich häufig im Verwechseln von ähnlich aussehenden Buchstaben (b und d, p und q) oder ähnlich klingenden Lauten (p und b, g und k, d und t). Viele Legastheniker lassen Buchstaben aus, schreiben sie an die falsche Position im Wort oder machen häufige Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung. Beim Lesen passieren Lesefehler und es werden ähnlich aussehende Wörter verwechselt. Zudem haben einige legasthene Menschen Probleme beim sinnerfassenden Lesen und beim Reimen von Wörtern.
Beispiele für Legasthenie | |
Differente Informationsverarbeitung | Umfassende Sichtweisen |
Differente Wahrnehmung | Bildhaftes Gedächtnis |
Schnelle Auffassungsgabe | Eigene Ordnung |
Differente Lernfähigkeit | Empfindsames Wesen |
Hohe Kreativität und viel Fantasie | Aufmerksamkeitsschwankungen |
Mehrere Gedanken gleichzeitig | Zeitweise Unaufmerksamkeit im Zusammenhang mit Symbolen (Buchstaben und Zahlen) |
Vorauseilen der Gedanken | Intuitive Ablehnung der Symbolik |
Umfassendes technisches Verständnis | Schwierigkeiten beim Erlernen der Uhrzeit. |
Text: Jasmina Salkic, Victoria Hilscher
Befragte: Integrationslehrerin einer Grazer Mittelschule, Lehrerin einer Grazer Mittelschule, Roswitha Hafen vom Verein Präventionsteam Schultüte (ARGE Jugend Referentin und Expertin zum Thema Lernförderung) –Herzlichen Dank für euren Beitrag!
Quellen:
https://www.legasthenieverband.org/10-wichtige-fakten-zu-legasthenie/
https://legasthenie-radenthein.com/2019/08/07/fakten-uber-legasthenie/
https://www.legasthenie-adhs-dyskalkulie.com/artikel/die-37-merkmale-von-legasthenie/
https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/schulsystem/sa/sp/sp_tlschwaeche.html
https://elternseite.at/de/themen/legasthenie-wie-eltern-ihre-kinder-unterstuetzen-koennen
https://www.legasthenie.at/was-ist-legasthenie/
Fotos:
https://www.istockphoto.com/de/search/2/image?mediatype=&page=3&phrase=legasthenie
https://www.legasthenieverband.org/10-wichtige-fakten-zu-legasthenie/