Ein unvergessener Freund und Weggefährte! In memoriam Heimo Widtmann 26.4.1930 bis 20.5.2023

Am 20. Mai 2023 verstarb mein Freund, langjähriger Weggefährte und Zeitzeuge unserer ARGE Jugend, Univ.-Prof. Dr. Heimo Widtmann kurz nach Vollendung seines 93. Lebensjahres. Acht Tage zuvor besuchte ich Heimo und seine Frau Karin in ihrem gemütlichen Haus im Grünen, um nachträglich zu Heimos 93. Geburtstag zu gratulieren. Wir tranken eine Tasse Schwarztee, erzählten einander wie jedes Jahr Neuigkeiten über das Gedeihen der Kinder, Enkerl und Urenkerl, unterhielten uns über aktuelle demokratiepolitische Entwicklungen und über den zu früh verstorbenen Helmut Strobl. Ich zeigte Heimo und Karin via Smartphone Bilder meiner Töchter Eva und Christina, Fotos von Berg- und Schitouren sowie einige Naturaufnahmen von Alpenblumen.

 

Heimo erklomm in jüngeren Jahren als Bergsteiger zahlreiche rassige Berggipfel zwischen dem Gesäuse und dem Triglav. Mehrmals durfte ich in den vergangenen Jahren Heimos Fotoalben mit beeindruckenden Alpinfotos ab den 1950er Jahren durchblättern. Im vertrauten Freundesgespräch erzählten wir einander die Touren und deren Schlüsselpassagen gerade so, als erlebten wir die um Jahrzehnte zeitverschobenen Bergwanderungen simultan, hic et nunc und in Echtzeit. Die verschworene Vertrautheit von zwei Bergfexen, welche eine Generationenkluft wie mit einem Kletterseil der Erzählkunst verbinden konnten!

 

Heimo bat mich bei unserem letzten Treffen, nach dem Teegenuss den mitgebrachten Rotwein zu entkorken, um auf seinen Geburtstag anzuprosten. Ich machte wie jedes Jahr einige Fotos, die zugleich die letzten Bilder von meinem Freund Heimo – im Beisein seiner geliebten Frau Karin – sind, wie mir mein Freund Wolfgang Grilz erzählte.

 

Der unvergessene Ludwig Kapfer, selig, knüpfte die Fäden unserer Freundschaft vor rund zwei Jahrzehnten. Er kenne einen höchst interessanten Architekten, Kunsthistoriker, Leiter der Grazer Altstadtkommission, der den Zeitzeug*innenpool der ARGE Jugend verstärken könne, so Ludwig. Bereits beim ersten Zusammentreffen mit Heimo und Ludwig in einem Andritzer Gasthaus spürte ich Heimos beeindruckend vielseitigen Bildungshintergrund, den er unprätenziös, feinsinnig und bescheiden einbrachte, vorgetragen in gut modulierter Rhetorik, stets aufmerksam in seinem respektvollen Modus des Zuhörens, Nachfragens, des echten Interesses am Gegenüber und seiner insgesamt sehr angenehmen Dialogfähigkeit.

 

Heimo nahm meine Einladung an, im Team unserer Zeitzeug*innen seine interdisziplinäre Expertise, seinen Erfahrungsschatz aus zahlreichen interessanten Berufsrollen und seine konfliktreiche Lebensgeschichte, die vom ständigen Widerstreit zwischen Demokratie und Diktaturen geprägt war, in den intergenerativen Dialog einzubringen. Totalitäre Herrschaftssysteme, repressive Politikkonzepte, Denkverbote und Bevormundungen aller Art waren Heimo von jungen Jahren weg ein sprichwörtlicher Gräuel. Er nahm alsbald die glaubwürdige Rolle einer allegorischen Figur für angewandte Ideologiekritik ein, wachsam gegen jede Form von Manipulation, propagandistischer Einrede und politischer Indoktrination. Bereits im Jugendalter verweigerte der aus einem christlich geprägten Elternhaus stammende Heimo die Teilnahme an den „Heimstunden der Hitlerjugend“, was ein sehr hohes Maß an Courage erforderte. Sein Leben riskierte der 15 Jahre junge Heimo, als er sich 1945 dem Einberufungsbefehl zum Volkssturm Hitlers entzog, sich über Forstwege von Graz zu Verwandten im Bezirk Leibnitz absetzte und dort das ersehnte Kriegsende erlebte.

 

Unsere Zeitzeug*innen nahmen Heimo und seine Frau Karin, die ebenfalls als Zeitzeugin bei der ARGE Jugend mitwirkte, mit Neugier und Vertrauen auf und erfreuten sich über viele geistreiche und anspruchsvolle Gespräche. Von den zahlreichen intergenerativen Dialogveranstaltungen, in denen Heimo interessiertes Publikum jeder Altersstufe zu beeindrucken vermochte, ist mir die zweitägige Veranstaltung für die Videoproduktion „Im Krieg“ im wundervollen Stift Vorau in lebendiger Erinnerung. Unser Team und einige engagierte Jugendliche befragten Heimo, Rudi Cäsar, Hermann Mauthner und Anton Lesanovsky über deren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Alle vier Zeitzeugen überzeugten durch ihren originellen Stil des Erzählens, durch ihre wechselseitige Wertschätzung und durch ihre Offenheit gegenüber allen Fragen der Jugendlichen.

 

Heimo erzählte damals im Stift Vorau eine parabelhafte Geschichte aus seiner Jugendzeit, als er im böhmischen Dorf Hadruva bei seinen Großeltern und seinem Onkel gelegentlich auf dem Bauernhof zu Besuch war. Nach Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion wurden der Familie in Hadruva Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter zugewiesen. Anders als die von der NS-Propaganda indoktrinierten überzeugten Nazis, behandelten die Widtmanns diese Landarbeiter mit Respekt und ohne Gewalt. Der – in den Worten Heimos – „baumlange Besevic“ floh rund ein Jahr vor Kriegsende zur Roten Armee und wurde dort Leutnant. Als die Rote Armee 1945 das Dorf besetzte, herrschte Angst vor Rache und Gräueltaten. Eines Abends klopfte „der baumlange Besevic“ bei der Tür, trat ein, begrüßte „den Chef“ herzlich und versicherte den Widtmanns, dass keinem Dorfbewohner ein Haar gekrümmt werde, da die Widtmanns ihn und andere Landarbeiter stets mit Respekt behandelt hatten. Was für eine beeindruckende Geschichte für den Wert von moralisch integrem Handeln, welches zu geeigneter Zeit rückerstattet wird. Als faszinierte Zuhörende haben wir die sprichwörtliche Stecknadel fallen gehört, so sehr beeindruckte uns diese Parabel, die uns lehrt, wie Humanität entsteht, wie diese immer innerhalb unseres Handlungsspielraumes verfügbar ist und wie diese selbst in schwierigsten Krisenzeiten aufrecht erhalten werden kann. Die „Parabel vom baumlangen Besevic“ gehört längst zu unseren „Geschichten aus zweiter Hand“, um die Jugend für Nächstenliebe, Solidarität und Zivilcourage zu begeistern!

Link zu Ausschnitten der Videoproduktion „Im Krieg“ mit Heimo Widtmann:

 

„Christian, du hast uns Zeitzeug*innen die internistische Vorsorgeuntersuchung erspart!“ Mit diesen heiteren Worten im Jahr 2005 bedachte mich Heimo einige Tage nach einer fordernden Zeitzeug*innenwanderung. Nach gemeinsamer Besichtigung des Todesmarschmahnmales am Präbichl gingen wir von der Bergstation des Polsterliftes, über die Leobner Hütte und die Handlalm zurück zur Talstation des Polsterliftes. „Ich habe heute noch einen richtigen Muskelkater, weiß jedoch, dass ich noch ganz gut trainiert bin,“ bedankte sich Heimo zum Schluss des Telephonats schmunzelnd.

 

Heimo und Karin belebten unsere Weihnachtsfeiern der ARGE Jugend mit verlässlicher Teilnahme und unterhaltsamen Geschichten. Heimos kunstvoll gestaltete Weihnachtsbilletts und seine Fotoarbeiten sind Teil meines Schatzkästchens der Erinnerung. Als Heimo vor einigen Jahren seine Gehfähigkeit einbüßte, wurde das jährliche Geburtstagstreffen um den 26. April im Hause der Widtmanns zu einem Fixpunkt unserer Freundschaft. Meine Töchter bewunderten ebenso wie ich das originelle, handgefertigte Türschild am Eingang des Hauses, bei dem mich über viele Jahre hinweg der ebenso schöne wie gutmütige Flat-Coated Retriever Jockl überschwänglich begrüßte.

 

In der Retrospektive auf unsere Freundschaft blitzen viele unvergessliche Erinnerungsbilder auf, lehrreiche Dialoge, gewürzt mit feinem Humor und Feinsinnigkeit bei allen mit Heimo besprochenen Themen. Ich bin sehr dankbar, dass ich mit meinem lieben Freund Heimo am 12. Mai 2023 einmal noch mit einem Glas Wein anprosten und ein letztes Foto von ihm und Karin machen durfte. Unvergessen bleibst du in unser aller Herzen, lieber Heimo!

 

Dein

 

Christian

 

Anhang

Heimo Widtmann erhielt im Jahr 2002 den Josef-Krainer-Heimatpreis des Landes Steiermark verliehen. Ich darf abschließend das kompakt verfasste Curriculum vitae zur Preisverleihung zitieren:

a.o. Univ.-Prof. Dr. Heimo WIDTMANN wurde 1930 in Graz geboren, ist verheiratet und hat vier Kinder. Er studierte an der Universität Graz Naturwissenschaften sowie an der Technischen Universität Graz Architektur. 1954 folgte die Graduierung zum Diplomingenieur, 1966 promovierte er zum Doktor der Technischen Wissenschaften an der TU Graz (Thema: Städtebau und Kirchenbau). 1969 wurde WIDTMANN Mitglied der Internationalen Staatsprüfungskommission an der Faculty of Architecture der McGill Universität in Montreal/ Canada. 1971 wurde ihm der Theodor Körner-Preis für „Revitalisierung historischer Ortskerne“ sowie der Erzherzog Johann-Forschungspreis für „Wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiete der Raumplanung und Altstadterhaltung“ verliehen. 1972 wurde er Mitglied des Österreichischen Nationalkomitees von ICOMOS (International Council of Monuments and Sites), einer Institution der UNESCO. Er hat dabei an zahlreichen Regional- bzw. Generalkonferenzen teilgenommen und dabei über die Altstadterhaltung, Ortsbildpflege und Stadterneuerung in Österreich referiert. In den Jahren von 1973 bis 1993 war WIDTMANN als Lehrbeauftragter für Christliche Kunstgeschichte an der Universität Graz tätig. Zwischen 1982 und 1992 war er Vorsitzender der Grazer Altstadt. Sachverständigenkommission. Diese bezieht ihren Auftrag aus dem Grazer Altstadterhaltungsgesetz, welches die Schaffung von Schutzzonen, die Installierung von Sachverständigenkommissionen und die Errichtung des Altstadtfonds festlegt. Seit 1981/82 ist er als Lehrbeauftragter für „Revitalisierung historischer Zentren“ an der Technischen Universität Graz tätig. Außerdem hält er zahlreiche Gastvorlesungen an Hochschulen des In- und Auslandes. 1989 erfolgte die Ernennung zum ao. Professor an der TU Graz. WIDTMANN verfasste zahlreiche einschlägige praktische und wissenschaftliche Arbeiten (zum Teil auf Wettbewerbsebene) auf dem Gebiet des Kirchenbaues, des Städtebaues und der Altstadterhaltung.

Quelle: http://www.steirisches-gedenkwerk.at/heimat-preistraegerinnen-2002/