Christian Ehetreiber: „Wo die große Welt im Kleinen ihre Probe hält.”

Sinnvolle Ankerpunkte der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts für innovative regionalgeschichtliche Erinnerungsprojekte

Die Verwobenheit von narrativem Wissen mit wissenschaftlichem Wissen

„Die erzählte Geschichte geht spätestens in der vierten Generation der Nachfahren verloren!“ Mit diesen Worten vermaß der Grazer Historiker Mag. Franz Stangl ungefähr jene Zeitspanne, innerhalb der wir Erinnerungsräume über das Medium der erzählten Geschichte betreten können. Dieses narrative Wissen von Zeitzeug*innen verblasst im Fluss der Zeit, woraus die Notwendigkeit der (multimedialen) Sicherung des Zeitzeugenschatzes ebenso resultiert wie die quellenbasierte Zeitgeschichte als Wissenschaft zur Rekonstruktion vergangener Ereignisse. Das narrative Wissen und das wissenschaftliche Wissen vermitteln in ihrer wechselseitigen Verwobenheit ein multisensorisches und anschauliches Bild der Geschichte. Fotoalben, Tagebücher, Briefe, Notizen, Stammbücher, Urkunden, Dokumente, Zeitungen und Gegenstände des täglichen Gebrauches sind unverzichtbar, um ein facettenreiches Bild und ein differenziertes Verständnis geschichtlicher Prozesse zu entwickeln.

 

Differenzierter Blick statt „Schwarz-Weiß-Malerei“

Es bedürfe des „differenzierten Blickes“ auf die Regionalgeschichte, keiner „Schwarz-Weiß-Malerei“ und keines „Scheuklappendenkens“, wie Franz Stangl seinen weltoffenen Zugang zu Zeitzeugengesprächen wie auch zur zeitgeschichtlichen Forschung auf den Punkt brachte. Die Geschichte spricht nicht von selbst zu uns. Sie lässt sich metaphorisch gesprochen nicht wie ein offenes Buch lesen, sondern erfordert Gespräche mit Zeitzeug*innen, die sorgfältige Spurensuche in Archiven, die quellenkritische Interpretation und vor allem die kühle Unterscheidung zwischen intersubjektivierbarer Faktizität und politisch-ideologischer Verbrämung.

 

Missliebige Geschichte von 1933 bis 1945 blieb lange „ausgeblendet“

Der Umgang der Zweiten Republik mit dem Zeitraum 1933 bis 1938 wie auch mit jenem von 1938 bis 1945 verdeutlicht, wie die aus der Mehrheitsperspektive missliebige Geschichte ausgeblendet, verdrängt und verleugnet wurde, um unangenehme Verantwortungsfragen zur Kanzlerdiktatur und zum Nationalsozialismus gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ob „Mythos der Stunde null“, Beendigung des Geschichtsunterrichts an Schulen mit dem Ersten Weltkrieg, Überstrapazierung des Opfer-Mythos Österreichs und eine unverhohlene Reintegration von hochrangigen Nationalsozialisten im öffentlichen Leben der Zweiten Republik: Sämtliche Strategien des „Glücklich ist, wer vergisst“ führte dazu, dass die Geschichte des Faschismus über Jahrzehnte hinweg verschütt gegangen ist.

 

Kritische junge Zeithistoriker*innen lüfteten den Mantel des Verschweigens

Erst eine kritische jüngere Generation an Zeitgeschichtlern und Journalist*innen brachte die verdrängten Kapitel der Geschichte mühevoll und unter stärkstem Gegenwind ans Tageslicht. Franz Stangl verwies dazu exemplarisch auf den engagierten Initiator zahlreicher Erinnerungs- und Gedenkprojekte beim österreichischen Bundesheer, den pensionierten Oberst und Menschenrechtspreisträger Manfred Oswald hin. Der engagierte Offizier war für seine verdienstvolle Etablierung einer antifaschistischen Erinnerungskultur innerhalb des Bundesheeres anfangs mit massiven Repressalien konfrontiert. Das Beispiel Manfred Oswalds verdeutlicht, dass die Initiierung von Erinnerungsprojekten zu tabuisierten Kapiteln der Regionalgeschichte immer den Mut zum aufrechten Gang wie auch couragierter Verbündeter bedarf, um nicht im buchstäblichen Wortsinn mundtot gemacht zu werden. Dies erleben aktuell die tapferen Whistleblower, die für die Veröffentlichung von massivsten Menschenrechtsverletzungen mit Höchststrafen und sogar mit der Ermordung zu rechnen haben.

 

 

Das Euthanasieprogramm der Nazis als erster Massenmord des NS-Regimes

„Fragt in Eurer Gemeinde nach Opfern des Euthanasieprogrammes der Nationalsozialisten“, ermunterte Franz Stangl die Teilnehmenden dazu, zu diesem immer noch weitgehend verschwiegenen Thema in der Heimatgemeinde die zu erwartenden heftigen Reaktionen zu ernten. Die Abwehrhaltungen auf diese Frage liegen u.a. darin begründet, dass die meisten Euthanasieopfer von Mitbürger*innen in der Heimatgemeinde denunziert, in der Folge im gefürchteten Schloss Hartheim heimtückisch ermordet wurden und den Angehörigen die wahre Todesursache – Ermordung – nicht mitgeteilt wurde. Wer will schon gerne in der Heimatgemeinde an die Mitverantwortung bei der Umsetzung des Euthanasieprogrammes erinnert werden? Franz Stangl verwies zudem noch auf die ebenfalls lange Zeit unter Verschluss gehaltene Geschichte der sogenannten „Mühlviertler Hasenjagd“ 1945 hin, als sowjetische Kriegsgefangene den Ausbruch aus dem KZ Mauthausen gewagt hatten und die meisten Entflohenen von der Zivilbevölkerung ermordet oder an die Nazis verraten wurden. Thomas Karny dokumentierte mit seinem erschütternden Buch „Die Hatz“ die verschiedenen Rollen des Mitmachens am Massenmord – und der Mitmenschlichkeit – rund um Mauthausen im Jahr 1945.

 

Die zitierten Beispiele Franz Stangls illustrierten die Regionalgeschichte als „Buch mit sieben Siegeln“, als „ausgeblendeten Ort“ aus dem öffentlichen Bewusstsein, für dessen Betretung es Risikobereitschaft, Mut und Recherchekompetenz braucht. Erinnerungsarbeit sei, so Stangl, sehr oft „energisches Einzelkämpfertum“. Seinen Schätzungen zufolge bewegt sich die Gruppe der verwegenen Initiatoren von tabubeladenen Erinnerungsprojekten bei 0,1% bis 1%. Die Zusammenarbeit in vertrauensvollen Gruppen repräsentiert daher auch heute noch eine essenzielle Grundlage für den Erfolg von politisch-ideologisch aufgeladenen Erinnerungsprojekten, wie gerade die Aufarbeitung der Geschichte der nationalsozialistischen Euthanasieprogramme der Nazis oder die Massenmorde an Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Widerstandskämpfern, Homosexuellen und Deserteuren immer wieder belegen.

 

Neugieriges Interesse und starke Motive erzeugen Sogwirkung in Erinnerungsprojekten

Franz Stangls von spürbarer intrinsischer Motivation an der Zeitgeschichte geprägter Vortrags- und Diskussionsstil ist motivierend, ansteckend, lädt ein, sich mit ihm auf zeitgeschichtliche Spurensuche in Archiven, Museen, Bibliotheken, insbesondere jedoch auf das Zeitzeug*innengespräch einzulassen. Im Zuge seiner jahrzehntelangen Dialogarbeit mit Zeitzeug*innen lässt er sich nicht politisch-ideologisch vereinnahmen, sich keine Frage- und Denkverbote auferlegen und beeindruckt stets aufs Neue durch seine Kunst des neugierigen Zuhörens, des respektvollen Umganges mit den Gesprächspartner*innen und des großen Zeit- und Energieeinsatzes, den er in jede Begegnung mit Zeitzeug*innen einbringt. Ob Widerstandskämpfer, Wehrmachtssoldat, SS-Mann, HJ-, BDM- oder KJV-Mitglied, Arbeiter*in, Hausfrau oder Unternehmer*in: Franz Stangl hat sämtliche Rollenträger*innen der NS-Zeit befragt, was diese zu oppositionellem Handeln, zu Widerspruch und Widerstand bzw. zur schweigenden Konformität mit dem NS-Regie oder gar zum Mitmachen an Verbrechen gegen die Menschlichkeit veranlasst hat, um daraus (genutzte und ungenutzte) Handlungsspielräume herauszuarbeiten und sichtbar zu machen.

 

Loderndes Feuer nach Wissen und tiefschürfender Erkenntnis

In Franz Stangls Ausführungen ist ein loderndes Feuer nach solider Erkenntnis spürbar, das auf Basis von Gesprächen, Recherchen, Sichtung von Quellen und Archivalien sowie von der Bereitschaft geprägt ist, anderen Sichtweisen, Bildern und Konstruktionen von Wirklichkeit zunächst mit dem Anspruch auf Verstehen zu begegnen. Erst nach Herstellung einer verständigungsbasierten, respektvollen Kommunikation schwenkt Franz Stangl ein auf ein dialogisches Modell des vertiefenden Nachfragens und der Erweiterung von Perspektiven auf ein Thema. All diese Qualitäten machen Franz zu einem Historiker mit Empathie, Gespür, Wertschätzung und einem in stets angenehmer Tonalität vorgetragenen Kritik. Sein Kritikmodus rüttelt nie an der Menschenwürde des Gegenübers, sondern bleibt immer themen- und sachbezogen, garniert mit der steten Einladung zum Widerspruch und zur Replik. Für die Erinnerungsarbeit lässt sich dieser markante Stil von neugierigem Zuhören, guter Vorbereitung auf das Thema wie auch auf den Gesprächspartner, von durchgängiger Dialogizität und von faszinierendem Erzählen als „kommunikative Werkzeugkiste“ für Erfolg im Bemühen um ein fundiertes zeitgeschichtliches und politisches Verständnis nutzen.

 

Peter Webhofer: Werkzeuge für die Entwicklung einer Idee zur faszinierenden Idee

Peter Webhofer, Projektentwickler mit dem Fokus auf agiles Projektmanagement und innovativer Anwender von Internet und Social Media in der Erinnerungsarbeit, widmete sein Referat der in vielen Erinnerungsprojekten oft vernachlässigten Phase der sorgfältigen Entwicklung einer brillanten Idee. Zu oft werden Erinnerungsprojekte auf sehr brüchigen Grundlagen gestartet, sodass sie weder im Projektteam noch bei Stakeholdern zu Begeisterung oder zu Motivation für die Mitarbeit führen. Eine unausgegorene Idee führt selten zu einer Kultur der Bürger*innenbeteiligung, nie zu hohem Medieninteresse oder zum bereits zitierten intrinsischen Sog für eine Mitwirkung am Projekt. Unausgegorene Ideen erzeugen im Gegenteil ein ganzes Bündel an Kollateralschäden: von der Demotivation der Akteure über eine unklare Profilierung der Kernthemen, einem „kollektiven Übersehen“ von Ressourcen, von Chancen und Gefahren im relevanten Umfeld bis zur Eröffnung von Krisen- und Konfliktfeldern infolge unzureichender Analysen, Recherchen und gemeinschaftlichen Nachdenkens und Entwickelns in der Ideenphase des Vorhabens.

 

Peter Webhofer fokussierte anhand von 12 hilfreichen Folien einige Werkzeuge für das „Ausleuchten von oft ausgeblendeten Schlüsselbereichen“, die gerade in der Vorbereitungsphase von Erinnerungsprojekten sorgsam zu reflektieren sind, um einen „Start in den Abgrund“ oder ein „Hineintappen ins Mittelmaß“ möglichst zu vermeiden. Von der gemeinschaftlichen Entwicklung überzeugender Zielbilder, die von starken Motiven geleitet sind, über verschiedene Tools zur Analyse des Umfeldes, in welches das Erinnerungsprojekt eingelassen ist, bis zur Visualisierung des Vorhabens auf einen Blick inklusive Bau eines Prototypen lieferte Peter Webhofer eine Fülle an hilfreichen und nützlichen Instrumenten, um eine erste Idee zu einer brillanten Idee weiterzuentwickeln.

Link zu den Folien von Peter Webhofer

 

Gedenkprojekt Todesmarsch Eisenstraße als Praxislabor von Tools des agilen Projektmanagements

Der Pädagoge und Kulturobmann der Stadtgemeinde Eisenerz, Gemeinderat Gerhard Niederhofer, der im Jahr 2000 das Gedenkprojekt „Todesmarsch Eisenstraße 1945“ gemeinsam mit BGM Hermann Auernigg und VBGM Gerhard Freiinger zum einstimmigen Gemeinderatsbeschluss führte, wies in seinem Statement darauf hin, dass die von Peter Webhofer vorgestellten Werkzeuge in der mittlerweile seit 20 Jahren entwickelten Gedenkkultur der Stadt Eisenerz bzw. der Eisenstraße immer wieder dem Praxistest unterzogen wurden. Gerhard Niederhofer verwies exemplarisch auf die höchst erfolgreiche Jugendbeteiligung bei der Entwicklung von zwölf Entwürfen für das Mahnmal über die modulare, schrittweise Erweiterung des Gedenkprojektes, die Einbindung von Nachbargemeinden und interessierter Bürger*innen bis zu einer gut etablierten Erinnerungskultur, für die das Gedenkbuch mit über 2.000 Eintragungen von Besucher*innen aus rund 50 Staaten sowie der mittlerweile bereits 16. Lebensmarsch zum Todesmarschmahnmal 2023 als vitale Zeichen stehen. Das Eisenerzer Gedenkprojekt entfaltete über die beiden Dekaden hinweg eine Strahlkraft mit Nutzen, Wirkung und Medienresonanz für die gesamte Region Eisenstraße.

 

Oft nicht einfach: Zeitgeschichte ins Gespräch bringen

Die Zeitgeschichte spricht – wie erwähnt – oft nicht von selbst zu uns. Sie muss mühsam aufgespürt, freigelegt und zugänglich gemacht werden: eine oft detektivische Aufgabe, die Spürsinn und knochenharte Recherche erfordert. Christian Ehetreiber, GF-Obmann der ARGE Jugend und Mitwirkender in verschiedenen Rollen an über 30 steirischen Erinnerungs- und Gedenkprojekten, bot im Einstieg einige einfache Methoden an, um in Workshops und Geschichtswerkstätten das Interesse und den Dialog über zeitgeschichtliche Themen zu entfachen. In seiner Rolle als Moderator ersuchte er die Teilnehmer*innen bereits im Vorfeld zum 1. Workshop, Fotos, Dokumente, Archivalien und Alltagsgegenstände aus ihrer Familiengeschichte mitzunehmen, die für sie von Bedeutung sind, und dazu eine kurze Geschichte zu erzählen. Von Großmutters herzförmiger Dessertschüssel über einen goldenen Ring, einem Foto des Enkerls mit seiner Großmutter bei einem winterlichen Schneespaziergang bis zu Feldpostbriefen und zu einem Brief des Partisanenkämpfers Max Muchitsch aus dem Jahre 1989 spannte sich die Auswahl an „Kleinoden aus der Familiengeschichte“, welche die Gruppe sofort ins Gespräch brachte. Diese „Methode der erzählenden Archivalien“ lässt sich in verschiedene Richtungen ausbauen, etwa zur themenbezogenen Recherche in Kellern, Dachböden und in Privatarchiven der Familiengeschichte, wobei selbstverständlich zuvor das Einverständnis der Rechtsinhaber einzuholen ist.

 

Familiengeschichte als Impulsgeber für Erinnerungsprojekte

Ehetreiber wies zudem auf die oft eingesetzte und bewährte Methode hin, Erinnerungsprojekte über die Geschichte der Familien anzustoßen, beginnend von den Eltern über Groß- und Urgroßeltern sowie weiterer Verwandter. Diese Methode setzt selbstverständlich ebenfalls Freiwilligkeit und eine vertrauensvolle Kommunikationskultur voraus, welche die Privatsphäre der Mitwirkenden achtet. In einem ersten Schritt können die „zeitgeschichtlichen Detektive“ erproben, wie weit sie bei der gemeinschaftlichen Recherche bei Eltern, Großeltern und Verwandten zeitlich in die Vergangenheit reisen können. In weiteren Schritten können die Mitwirkenden herausfinden, was alles über die Vorfahren überliefert wurde, welche Rolle einzelne Vorfahren für die Nachfahren spielen, welche Aspekte bis heute über Strahlkraft verfügen, was von einzelnen Vorfahren aufbewahrt wurde u.a.m.

 

Die intrinsische Motivation, die auf starken Motiven gründet, die Leidenschaft befeuert und einen Sog zum Handeln erzeugt, war jedenfalls im 1. Workshop der Reihe „Lost Memories“ spürbar. Beim gemeinsamen Mittagessen vermerkten einige Teilnehmer*innen, dass die Zeit wie im Flug vergangen sei: ein untrügliches Zeichen für einen mitreißenden Auftakt der Reihe „Lost Memories”.

 

Eckdaten zum ersten Workshop der Reihe „Lost Memories“

Workshop 1: „Wo die große Welt im Kleinen ihre Probe hält”: Welche sinnvollen Ankerpunkte bietet die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts für innovative regionalgeschichtliche Erinnerungs- und Gedenkprojekte?

 

Datum und Ort:

April 2023, 08:30-16:00 Uhr im JUFA-Hotel Graz City, Idlhofgasse 74, 8020 Graz

 

Referenten:

Mag. Franz Stangl, Kustos des Universitätsmuseums Graz

Peter Webhofer, Leiter der Fa. blue lab, Graz

 

Moderation:

Mag. Christian Ehetreiber, GF-Obmann der ARGE Jugend

 

Anzahl der Teilnehmer*innen: 11 Personen

 

Die Workshopreihe wird gefördert von der Abteilung 6 Bildung und Gesellschaft des Landes Steiermark und vom Zukunftsfonds der Republik Österreich.