Ein Interview mit Katrin Nahidi, Universitätsassistentin für Kunstgeschichte an der Universität Graz
Wenn man die Diskurse in den Sozialen Medien, vor allem seit Herbst, aufmerksam verfolgt hat, ist man aller Voraussicht nach unausweichlich dem Hashtag #mahsaAmini begegnet. Grund dafür ist der Tod der 22-Jährigen Mahsa Amini, die im September 2022 während ihrer Inhaftierung durch die sogenannte iranische Sittenpolizei ums Leben kam. Ihr Tod löste nicht nur nationale, sondern auch weltweite Demonstrations- und Protestbewegungen aus, die von einigen Medien stellenweise als Beginn einer Revolution[1] bis hin zur Feministischen Revolution[2] bezeichnet werden – aus dem Lateinischen „revolutio“ – zu Deutsch „Umwälzung“.
Die letzte Islamische Revolution wird auf die Jahre 1978/79 datiert, seither gelten im Iran Vorschriften, die der westlichen Bevölkerung zum Teil in ihrem Alltag völlig fremd sind: Nicht bloß in den eigenen vier Wänden, sondern auch an öffentlichen Orten zu tanzen, zu singen, Musik zu hören (vorausgesetzt man begeht keine Ruhestörung), frei entscheiden zu dürfen, welche Kleidungsstücke man in welcher Jahreszeit tragen möchte, um einige Beispiele zu nennen – scheinen diese Handlungen für in der westlichen Welt lebende Menschen selbstverständlich, stellen sie für die iranische Bevölkerung und vor allem für Frauen im Iran ein Verbot dar. Das aus der Islamischen Revolution entstandene politische System mit der autoritären iranischen Regierung sukzessive zu schwächen, ist für Protestierende im Iran nicht länger eine ideale Illusion, sondern ein unerlässliches Ziel.[3]
Während Medienberichte uns sachlich über Vorkommnisse und Entwicklungen im Iran informieren, kann uns Katrin Nahidi, Universitätsassistentin für Kunstgeschichte an der Universität Graz, durch ihre persönliche Verbindung und ihre Sichtweise tiefere Einblicke zur aktuellen Situation im Land geben.
Victoria Hemmer (ARGE Jugend): Sie haben iranische Wurzeln und Familie im Iran – welche Verbindung haben Sie zum Iran? Haben Sie Ihre Kindheit dort verbracht?
Katrin Nahidi: Meine Eltern haben vor der Iranischen Revolution 1978/79 im Iran gelebt und haben aufgrund der politischen Ereignisse das Land verlassen. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht auf der Welt – ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen.
Victoria Hemmer (ARGE Jugend): Haben Sie einmal längere Zeit im Iran verbracht?
Katrin Nahidi: Für die Feldforschung zu meiner Dissertation, die ich über moderne Kunst aus dem Iran, die zwischen 1953-1978 entstanden ist, geschrieben habe, war ich zwischen 2013-2017 immer wieder in Teheran. Insgesamt habe ich bislang ungefähr 12 Monate dort verbracht.
Victoria Hemmer (ARGE Jugend): Fühlt es sich wie Heimkommen an?
Katrin Nahidi: Für mich fühlen sich meine Aufenthalte im Iran immer fremd und vertraut gleichzeitig an. Mich mit einem Ort zu identifizieren ist mittlerweile nicht mehr ganz einfach: Ich habe in München, Bern, Teheran und Berlin gelebt und bin nun in Graz. In meiner Biographie hat Iran immer eine gewisse Präsenz – durch die Familie, durch meinen Nachnamen, durch Fremdzuschreibungen und natürlich auch durch meine Forschungsarbeiten. Bei jedem Besuch im Iran sind besonders die ersten Wochen unglaublich schön und aufregend, denn es erwarten mich viele Treffen mit meiner Familie und meinen Freunden. Nach einer gewissen Zeit kehrt allerdings bei jeder:m der Alltag ein und bestimmte Schwierigkeiten treten vermehrt in Erscheinung. Diese schwierigen Situationen beobachte ich aus meiner privilegierten Situation und sehe wie hart das alltägliche Leben im Iran sein kann, während mir die Möglichkeit offen steht, jederzeit wieder zurück nach Europa zu reisen.
Victoria Hemmer (ARGE Jugend): Sehen Sie die vielen Demonstrationen im Iran als eine wichtige, lang überfällige Entwicklung in dem Land?
Katrin Nahidi: Betrachtet man die Geschichte des Iran wird klar, dass die Iraner:innen bereits mehrfach demonstriert haben. Ebenfalls sind und waren Widerstände gegen Autoritäten, Kolonialismus und staatliche Repressionen in der Vergangenheit keine Seltenheit. Sobald sich Iraner:innen ungerecht behandelt fühlten, haben sie sich gewehrt. Auch wenn die Iranische Revolution von 1978 sich bereits schon zum 40. Mal gejährt hat, ist die Erinnerung, wie stark eine Protestbewegung werden kann noch sehr präsent; und da das Iranische Regime das genau weiß, sind sie in ihrer über 40-jährigen Geschichte immer rigoros gegen jegliche Form des Protests vorgegangen. Beispielsweise wurden 2009 die Proteste, die als Green Movement bekannt wurden, niedergeschlagen.
Victoria Hemmer (ARGE Jugend): Warum stehen Frauen und Männer genau jetzt auf und wehren sich gegen das Regime?
Katrin Nahidi: Die Proteste sind vor allem von sehr jungen Menschen ausgegangen, zum Großteil im Alter zwischen ca. 15-30 Jahren. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Lage im Iran haben sie keine Angst vor dem Regime, weil sie nichts mehr zu verlieren haben. Die westlichen Sanktionen trafen vor allem die Bevölkerung wirtschaftlich hart. Die politischen Eliten hingegen sind dagegen kaum davon betroffen. Gleichzeitig wird in weiten Kreisen der Bevölkerung auch die Zusammenarbeit des Iran mit China, Russland und der Türkei verurteilt, vor allem die Beteiligung am Krieg in Syrien.
Die jungen Protestierenden haben keine Hoffnung auf ein besseres Leben. Lange Zeit haben Teile der iranischen Bevölkerung geglaubt, das politische System könne von innen reformiert werden. Es gab auch immer wieder Momente der Hoffnung, beispielsweise während der Regierung reformorientierter Präsidenten wie Mohammad Khatami (1997-2005) oder Hassan Rouhani (2013-2020). Von den religiösen Eliten wurden aber jegliche reformatorischen Bestrebungen abgeblockt. Mit der Wahl des neuen Präsidenten Ebrahim Raisi wurden die konservativen Kräfte wieder bestärkt. Aber aktueller Auslöser war natürlich der Tod von Mahsa Amini, die verhaftet wurde, weil sie ihr Kopftuch nicht korrekt trug und die am 16. September in Haft verstarb.
Victoria Hemmer (ARGE Jugend): Vermuten Sie, dass der Mut, der an Protesten beteiligten Zivilist:innen, durch die weltweite Solidarität bestärkt wird? Bekommt der Iran Ihrer Meinung nach genug Aufmerksamkeit von der westlichen Welt?
Katrin Nahidi: Die Protestierenden riskieren ihr Leben. Natürlich ist Solidarität wichtig, aber die Konsequenzen der Proteste betreffen die Protestierenden selbst und auch deren Familien, die Repressionen zu befürchten haben. Die Solidarität ist wichtig und auch, dass die Stimmen der Iraner:innen weitergetragen werden und nicht verstummen. Ich denke, dass der Iran in den letzten Wochen durchaus mediale Aufmerksamkeit bekommen hat, aber das allein reicht nicht aus. Es ist Zeit für politische Konsequenzen und Sanktionen, wie wir das am Beispiel Russlands gesehen haben. Letzte Woche hat der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution verabschiedet, um die Menschenrechtsverletzungen im Iran zu untersuchen.
Victoria Hemmer (ARGE Jugend): Welcher Blickwinkel entgeht uns in Europa, wenn die Medien über den Iran sprechen?
Katrin Nahidi: Das ist eine schwierige Frage. Es gibt mittlerweile vielfältige Stimmen, die auch im europäischen Diskurs präsent sind, deshalb würde ich nicht sagen, dass es DEN EINEN Blickwinkel gibt. Wie jedes Land hat Iran eine komplexe und vielfältige Geschichte, ich möchte mich einfach dafür aussprechen den vielfältigen Stimmen, die es gibt, Gehör zu schenken und ihnen zuzuhören, was sie zu erzählen haben.
Victoria Hemmer (ARGE Jugend): Wie könnte die bestmögliche Entwicklung für die vielen Iraner:innen aussehen?
Katrin Nahidi: Vor allem die moderne Geschichte des Iran ist geprägt von einem kontinuierlichen Kampf der Iraner:innen für Freiheit, Liberalisierung und Demokratisierung. Als Spielball imperialer Machtinteressen haben westliche Kolonialmächte diese Bestrebungen in der Geschichte lange zu verhindern gewusst. Die Revolution von 1978/79, die als anti-kolonialer Widerstand begonnen hat, hat auch nicht ihre ursprünglichen vermeintlich utopischen Ideale erfüllt, sondern dazu beigetragen, dass fast alle iranische Familien zersprengt über den Erdball verteilt leben, getrennt von Familie und Freunden. Neulich hat meine Cousine, die in Schweden lebt, auf Instagram ein Video geteilt, das Bilder von Irans Natur- und Kulturstätten gezeigt hat und mit einem Lied unterlegt war: „I am coming home“. Das wäre meine Hoffnung für die bestmögliche Entwicklung, dass Iraner:innen selbstbestimmt in Frieden und Freiheit im Iran leben können.
Text: My-Ngoc Vu und Victoria Hemmer
[1] https://www.diepresse.com/6223084/die-revolution-im-iran-ist-nicht-mehr-zu-stoppen
[2] https://www.profil.at/ausland/aida-loos-die-frauen-im-iran-haben-einen-kollektiven-wutanfall/402250353
[3] https://www.derstandard.at/story/2000139717977/worum-es-bei-den-demonstrationen-im-iran-geht