Kein Unterricht nach „Schema F“ – der Alltag einer Sonderschulpädagogin

In der Gesellschaft werden Sonderschulen oft stigmatisiert und sind mit Vorurteilen verbunden. Jedoch zeigt sich immer wieder wie wichtig diese Schulform für die Bildung von Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarf sind. Im Gespräch mit Sonderschulpädagogin Eva erfahren wir mehr darüber.

 

ARGE Jugend: Wie kann man sich den Unterrichtsalltag in deiner Klasse als Sonderschulpädagogin vorstellen?

Eva: In meiner Klasse sind 7 Schüler:innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf unterschiedlichen Alters. Jedes Kind in unserem Klassenverband ist völlig verschieden, aber jedes hat auf die eine oder andere Art eine körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigung. Wir haben verschiedene Lehrpläne und Schulstufen in einer Klasse. Dies bedeutet, es findet kein Unterricht nach Schema F statt, sondern meine Assistentin und ich versuchen jedes Kind individuell dort abzuholen, wo es gerade steht. Wenn an einem Punkt ein Unterricht nicht möglich ist, weil Konflikte oder Krisen aufkeimen, dann kümmert man sich um diese. Grundsätzlich muss ich alle 7 Schüler:innen gleichzeitig sinnvoll beschäftigen und die Aufgaben für jedes Kind einzeln zusammenstellen – es machen bei uns nie zwei Schüler:innen dieselbe Übung. Man kann die Unterrichtssituation hier nicht mit einer Klasse in der Regelschule vergleichen. Alleine zuständig zu sein für 25 Schüler:innen wäre bei uns überhaupt nicht denkbar. Bei manchen Schüler:innen ist die Konzentrationsspanne recht kurz, daher ist es auch okay, wenn sie aufstehen und sich entspannen oder in die Spieleecke gehen.

 

ARGE Jugend: Welches Fach unterrichtest du besonders gerne und warum?

Eva: Am liebsten mag ich das Unterrichtsfach „Ernährung und Haushalt“. Je nach Alters- und Entwicklungsstand kann man diesen Unterricht ganz unterschiedlich gestalten und den Kindern sehr lebensnahe Aufgaben stellen. Es geht darum motorische Fertigkeiten zu üben, wie schneidet man Gemüse in kleine oder große Stücke? Wie deckt man den Tisch, wo ist links und rechts? Wie viele Personen sind wir, wie viele Teller stelle ich also auf den Tisch? Bei den größeren Schüler:innen kann man im Kochunterricht auch schon mal herausfordernde Mathematikaufgaben stellen. Die Schüler:innen müssen Mehl abwiegen, in Gramm umrechnen etc. Wir gehen auch gemeinsam einkaufen und berechnen anschließend, wie viel die Mahlzeit pro Person kostet. Dies ist für die Schüler:innen oftmals viel greifbarer als die Rechenübungen im Schulheft durchzuführen. Viele Dinge kann man im Kochunterricht viel anschaulicher vermitteln als im Klassenzimmer. Natürlich geht es auch um Teamfähigkeit und die Zusammenarbeit zwischen den Schüler:innen. Besonders schön sind das Zusammensitzen und gemeinsame Essen, dabei darf gerne auch miteinander geplaudert werden. Die Schüler:innen haben mit der gekochten Mahlzeit jedes Mal ein tolles und direkt erfahrbares Erfolgserlebnis, welches sie dann miteinander genießen können. Der Abwasch und das Aufräumen danach dürfen aber natürlich auch nicht fehlen!  ?

 

ARGE Jugend: Was gefällt dir besonders gut an deinem Beruf?

Eva: Besonders gut gefällt mir die Vielseitigkeit an diesem Beruf. Kein Schuljahr ist wie das andere, kein Kind wie das andere, es bleibt daher immer spannend. Dieses Jahr habe ich eine sehr aufgeweckte und lustige Klasse, es wird sehr viel gelacht. Oftmals begleite ich die Schüler:innen 9 oder mehrere Jahre lang und verfolge die gesamte Entwicklung in dieser Zeit. Natürlich baut man dabei auch eine gewisse Bindung zu den Schüler:innen auf. Man muss sich auch auf jedes Kind sehr genau einstellen, man sollte die Potenziale und Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des Kindes erkennen und diese respektieren, um es individuell bestmöglich in der gesamten Entwicklung zu unterstützen.

 

ARGE Jugend: Was sind die größten Herausforderungen für dich?

Eva: Die individuelle Betreuung der Schüler:innen verursacht natürlich manchmal auch Stress. Englisch unterrichte ich etwa in einer Kleingruppe mit 5 Schüler:innen, welche alle den Mittelschullehrplan haben. Jedes einzelne Kind befindet sich auf einem ganz anderen Niveau und hat daher z.B. die Schulbücher anderer Schulstufen. Hier ist für mich einiges zu koordinieren und zu bewältigen, damit ein Unterricht stattfinden kann, der den Bedürfnissen aller gerecht werden kann.

Ich habe in meiner Zeit in der Sonderschule gelernt, die Ansprüche an mich selbst und an die Schüler:innen oftmals hinunterzuschrauben. Manchen Schüler:innen kann man nicht zu 100% gerecht werden und ich erwarte das umgekehrt auch nicht von meinen Schüler:innen. Teilweise bräuchte man auf jeden Fall eine dritte Person in der Klasse. Obwohl wir personell im Vergleich zur Regelschule einen großen Luxus haben, bräuchte man trotzdem noch mind. eine Person zusätzlich. Der Umgang mit Krisensituationen, wie z.B. Wutanfällen oder Ausrastern ist oftmals eine große Herausforderung. Zum Glück kommt das aber nicht allzu häufig vor!

 

ARGE Jugend: Sonderschule oder inklusive Regelschule?

Eva: Jeder Mensch mit einer Beeinträchtigung hat das Recht auf Inklusion, das ist ganz klar und auch festgeschrieben in der UN-Behindertenrechtskonvention. Aber um die inklusive Regelschule in der Praxis in Österreich auch tatsächlich umzusetzen, fehlt es derzeit einfach noch an personellen, finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen. Die Schüler:innen brauchen häufig eine dauerhafte Einzelbetreuung, dies kann derzeit in der Regelschule nicht gewährleistet werden. Es müssten außerdem praktisch fast alle Schulgebäude umgebaut werden.

Oftmals ist es auch so, dass sich diese Schüler:innen als Außenseiter der Klasse empfinden und sehr wenige Erfolgserlebnisse haben. Die Schüler:innen merken, dass sie im normalen Unterricht nicht mitkommen. Es stellt daher, meiner Erfahrung nach, sowohl für die Schüler:innen als auch für die Eltern eine große Erleichterung bzw. ein Durchatmen dar, wenn sie zu uns in die Schule kommen dürfen. Wir haben kleine Gruppen, viel mehr Flexibilität in der Gestaltung des Unterrichts, viel mehr Zeit und auch therapeutische Mittel um auf die Schüler:innen eingehen zu können.

Leider ist es immer noch so, dass die Sonderschule mit einer gewissen gesellschaftlichen Stigmatisierung verbunden ist. Ich kann daher nachvollziehen, wieso sich viele Eltern dafür einsetzen, dass ihr Kind in die Regelschule gehen kann. Ich bin jedoch der Meinung, dass dies nicht immer der beste Weg für das Kind ist und ich möchte daher meinen Appell an die Eltern aussprechen, sich nicht von dem Stempel „Sonderschule“ abschrecken zu lassen, sondern sich die Schulen mit möglichst wenig Vorbehalten anzuschauen und sich darauf einzulassen.

 

Sonderschule und inklusiver Unterricht (bmbwf.gv.at)

Sonderschule oder Besuch einer inklusiven Regelschule (oesterreich.gv.at)

Sonderpädagogik – Das österreichische Bildungssystem

 

Text: Hannah Grosser und Mervat Mohamed