Mehr Sprachen – mehr Chancen?

Mehr als ein Viertel der Schüler:innen in Österreich, in Wien mehr als die Hälfte, verwendet im Alltag eine andere Umgangssprache als Deutsch (Statistik Austria für das Schuljahr 2019/20). Dies zeigt, dass Mehrsprachigkeit schon längst Alltag in den meisten Schulen ist und dennoch gibt es noch immer viele Mythen darüber:

Mythos 1: „Alle Sprachen sollen möglichst auf muttersprachlichem Niveau beherrscht werden.“

Nein, das entspricht nicht der Realität. Zwei- und mehrsprachige Personen sind meist nicht in allen ihren Sprachen gleich stark. Nur wenige Menschen erreichen solche Fähigkeiten (z.B. Dolmetscher:innen, Sprachwissenschaftler:innen oder Personen, die ihre Sprachen ständig und in vielen unterschiedlichen Lebenssituationen anwenden).

Mythos 2: „Frühe Zweisprachigkeit verzögert den kindlichen Spracherwerb.“

Auch dieser Mythos ist falsch. In der frühen Kindheit durchlaufen Kinder wesentliche Entwicklungsstufen im Spracherwerb -egal, ob in einer, zwei oder mehreren Sprachen.

Mythos 3: „Zwei- und Mehrsprachigkeit beeinflusst die kognitive Entwicklung negativ.“

Auch diese Annahme entspricht nicht der Wahrheit- vielmehr können mehrsprachige Kinder in manchen Bereichen sogar Vorteile haben. Beispielsweise gelingt es ihnen oftmals leichter, sich an neue sprachliche Regeln anzupassen oder auch über Sprachen zu reflektieren (metasprachliche Kompetenzen).

 

Bild: https://wissenschaftskultur.blogspot.com/2019/03/migration-als-schlussel-fur-die-zunahme.html

Doch was ist eigentlich Mehrsprachigkeit?

Allgemein versteht man unter Mehrsprachigkeit den Erwerb von zwei oder mehr Sprachen bis zum dritten Lebensjahr, welches als kritischer Punkt bezeichnet wird.

Sprache ist außerdem sehr stark an unser kulturelles Empfinden und unsere Identität gebunden. Durch Sprache wird alles an Erkenntnis, Wissen, Gedanken, Vorstellungen, Visionen, Bildern und Konzepten, das sich von der Gesellschaft über die Zeit angesammelt hat, aufbewahrt und transportiert. Demnach erlebt eine mehrsprachige Person mit jeder neuen Sprache auch neue kulturelle Erfahrungen. Mehrsprachige Konzepte weisen ein äußerst dynamisches Verständnis von Identität auf. Die Entwicklung der Identität bei mehrsprachigen Personen unterscheidet sich insofern, dass sie durch den Wechsel der Sprachen auch automatisch ihre damit verbundene Identität öfter wechseln.

Laut der “Theory of Mind” haben mehrsprachige Kinder eine ausgeprägtere Fähigkeit Perspektiven zu wechseln und sich in die Lage von anderen Personen hineinzuversetzen. In diesem Zusammenhang versteht man unter dem Begriff „Theory of Mind“ das Vermögen, Gefühle, Einstellungen, Erwartungen und Meinungen von sich selbst oder anderen Individuen zu verstehen. Die Entwicklung der Theory of Mind ist vollbracht, wenn das Kind in der Lage ist, die eigene Meinung von der der anderen zu unterscheiden. Im Normalfall besitzen Kinder im Alter von circa vier bis fünf Jahren diese Fähigkeit, was als entscheidender Meilenstein in der kognitiven Entwicklung gesehen wird. Mehrsprachige Kinder hingegen können dies bereits ein bis zwei Jahre früher als einsprachige Kinder.

Gerade durch diese besonderen Fähigkeiten kann gezeigt werden, wie vielfältig und bereichernd Mehrsprachigkeit sein kann. Im Schulalltag ist es oftmals eine große Herausforderung, allen individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Umso wichtiger ist es Mythen über vermeintliche Defizite durch Mehrsprachigkeit aufzuklären und einen gesamtheitlichen Blick auf sprachliche Bildung zu werfen.

Weitere Tipps zum Umgang mit Mehrsprachigkeit finden Sie auf dem Folder des Österreichischen Sprachen-Kompetenz-Zentrums.

 

Quellen:

Christ, Herbert (2009): Über Mehrsprachigkeit. In: Gogolin, Ingrid/ Neumann, Ursula (Hrsg) (2009): Streitfall Zweisprachigkeit- The Bilingualism Controversy. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S.31-49.

Fehlings de Acurio, Regine (2016): Mehr Sprachen- mehr Chancen. Über Zwei- und Mehrsprachigkeit von Kindern. Berlin: Dohrmann Verlag.

Österreichisches Sprachen-Kompetenz-Zentrum:

Schule mehrsprachig:

 

 

Text: Jasmina Salkic