(Im)possible – Wie wir lernen, lösungsorientiert zu denken

Ein Interview mit Gregor Berger

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Sich mit den bewegenden Probleme unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen, heißt oft auch, irgendwann vermeintlich anzustoßen. Mit den Gedanken stehenzubleiben beim System-Begriff und widerwillig zu akzeptieren, dass die Strukturen des Systems festgelegt sind. Aber wenn die Systeme von uns Menschen konstruiert worden sind, sind sie dann nicht auch veränderbar? Aktivistische Bewegungen von früher und von heute zeigen uns auf, was bewirkt werden kann, wenn viele Menschen ein kollektives Ziel haben und sich zusammentun, um dieses zu erreichen. Wie fördern wir unser aktivistisches Denken und was braucht es, um sich möglichst breitenwirksam und zielgerichtet zu engagieren, um nachhaltig etwas zu verändern?

Gregor Berger vom Verein Kontra.Punkt beantwortet im folgenden Interview unsere Fragen zum Thema kritische Bildung. Er schreibt unter anderem darüber, worin seiner Meinung nach die Herausforderungen der heutigen Zeit liegen und was die Krisen unserer Systeme gemeinsam haben. All das in Hinblick möglicher Veränderungen.

 

ARGE Jugend: Was bedeutet „kritische Bildung”?

Gregor Berger: Kritische Bildung bedeutet für uns Praktiken, Überzeugungen und Institutionen in Bezug auf gesellschaftliche Emanzipation zu hinterfragen und dieses Hinterfragen grundsätzlich zu erlernen. Dadurch wird zum Einen die Fähigkeit vermittelt, das Selbstverständliche („Das ist halt so“) unselbstverständlich zu machen („Das könnte auch anders sein“). So wird offensichtlich, dass die meisten Sachverhalte nicht natürlicherweise gegeben, sondern sozial gemacht und damit veränderbar sind. Zum anderen wird die Kompetenz erarbeitet, diese Selbstverständlichkeiten am Maßstab der Emanzipation, also der Befreiung aller Menschen von Herrschaft, zu prüfen.

 

ARGE Jugend: Worin siehst du die größten globalen Herausforderungen unserer Zeit, die dringenden Handlungsbedarf erzeugen?

Gregor Berger: Derzeit, so scheint es, entladen sich viele globale Spannungen zeitgleich. Man könnte diesbezüglich verschiedene Krisenphänomene aufzählen und hierarchisieren: Klimawandel, patriarchale Gewalt, soziale Ungleichheit, Rassismus etc. Auch wenn diese Krisen alle unterschiedlich sind und Eigenheiten aufweisen, lohnt es sich, ihre Zusammenhänge in den Blick zu bekommen. Ein zentraler Zusammenhang dürfte diesbezüglich wohl ein systematischer Drang zur Besitzanhäufung sein. Weil oft Freiheit und Glück mit Besitz und (vermeintlicher) Unabhängigkeit gleichgesetzt wird, ergeben sich immer wieder Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse über Mensch und Natur.

 

ARGE Jugend: Oft werden in Krisensituationen „Systeme” und „Machtstrukturen” kritisiert. Welche Systeme spielen in unserer Gesellschaft eine Rolle und inwiefern üben diese Macht aus?

Gregor Berger: Die Systeme, welche wohl die schwerwiegendsten Krisen hervorrufen, sind eben jene, die die oben genannte Gleichsetzung von Besitz sowie Entsolidarisierung und Freiheit institutionalisieren. Eine zentrale Rolle nimmt dabei unser vorherrschendes Wirtschaftssystem ein. Eine kapitalistische Marktstruktur, die sich unter anderem durch Wachstumszwang, Kapitalkonzentration und Ausbeutung charakterisieren lässt, führt immer wieder zu sozialen Krisen. Dieses System steht mit anderen Systemen (Geschlechterordnung, Naturverhältnis, rassistischen Strukturen etc.) in Verbindung, wenngleich diese nicht vollkommen in ihm aufgehen. Die Macht, die diese Systeme ausüben, wirkt vielschichtig und oft viel feiner als es jenen, die gegen die Machtverhältnisse aufbegehren, lieb ist: Angefangen bei unseren rechtlichen und politischen Institutionen, über die Medien und Lehrpläne, bis in die Art und Weise, wie wir Familie sowie Liebe denken und welche Sehnsüchte wir haben. Das heißt allerdings nicht, dass wir all das, auf einmal, komplett ändern müssten oder überhaupt könnten – aber wir müssen all das mit Blick auf Emanzipation kritisch hinterfragen, um eine bessere Welt zu ermöglichen.

 

ARGE Jugend: Was können wir als Bildungsarbeiter/innen, Aktivist/innen und allgemein als Bürger/innen tun, um Demokratie, sozialen Frieden und Gerechtigkeit in der Gemeinschaft zu fördern und zu erhalten? Wo lassen sich effizient die „Hebel ansetzen”?

Gregor Berger: Wir werden wohl nicht darum herumkommen, uns von der Vorstellung zu lösen, dass die notwendige Veränderung durch individuelles Verhalten möglich ist. Wenn es stimmt, dass die bestimmenden Machtstrukturen so funktionieren wie oben beschrieben, dann muss ihnen in der gleichen Funktionsweise begegnet werden – über die Änderung der Politik, des Rechts, unserer Wertevorstellung und unserer Bedürfnisse. Das ist aber keine Angelegenheit, zu der ich mich als Einzelne:r einfach so entscheiden kann, noch würde das Veränderung auf diesen Ebenen bewirken. Wir sollten also politisch denken und den demokratischen Austausch ernst nehmen. Wichtig dafür ist uns wieder in den Beziehungen zu denken, in denen wir faktisch stecken und nicht in der Fiktion von uns als „einsame Inseln“ zu verharren.

 

ARGE Jugend: Unser tägliches Konsumverhalten – unser „Lifestyle” – spielt eine bedeutende Rolle im Zusammenhang mit dem Klimawandel, den Menschenrechten und dem Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Welche Umdenkprozesse, Haltungen und Ziele braucht es, um unseren Lebensstil nachhaltiger zu gestalten?

Gregor Berger: Die Ziele sind vergleichsweise klar: Wir brauchen eine Form des gemeinsamen Zusammenlebens, die nicht auf Ausbeutung und Herrschaft der einen über die anderen aufbaut. Dieses Ziel wird aber schwer zu erreichen sein, da vor allem diejenigen, die von diesem System profitieren, die größte Macht hätten es zu verändern, aber eben wenig Interesse daran entwickeln. Auch viele Menschen in Österreich gehören zu jener Gruppe der Privilegierten, die deshalb wenig Interesse an Veränderung haben. Hier kommt die Haltung ins Spiel: Privilegierte Menschen sollten sich immer wieder vor Augen führen, was sie mit einer anderen Lebensform an Lebensqualität gewinnen können. Zum einen müssen dann nicht mehr andere für ihren Lebensstandard leiden. Zum anderen erhalten auch sie neue Freiheiten: Zeit, Gemeinsamkeit, Sinn.

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ARGE Jugend: Protestbewegungen wie die Klimaaktivismusbewegung „fridays for future“ zeigen uns, dass Engagement im Kollektiv sehr viel in Gang bringen kann. Welche 3 Strategien würdest du Aktivist/innen einer Protestbewegung empfehlen, um ihr Engagement möglichst breitenwirksam, zielgerichtet und effektiv in die gewünschte Richtung zu lenken?

Gregor Berger: Es ist schier beeindruckend, was soziale Bewegungen in den letzten Jahren erreicht haben und wahrscheinlich sind vor diesem Hintergrund Strategieempfehlungen vom Laptop aus unangebracht, aber die folgenden drei Strategien erscheinen aus der (teilnehmenden) Beobachtung wichtig:

  1. Dialogfähigkeit: Wenn wir Demokratie ernst nehmen, dann muss es uns darum gehen andere von unseren Gründen zu überzeugen. Diese Überzeugung kann aber nur funktionieren, wenn die Gründe auch verstanden werden können. Die dialogische Vermittlung unserer Anliegen ist deshalb essentiell. Dabei ruht aber nicht die gesamte Last auf den Schultern der Aktivist:innen – auch unser Bildungs- und Mediensystem sowie jede Einzelperson haben diesbezüglich eine demokratische Verantwortung. Diese Dialogfähigkeit ist auch maßgeblich für die Vermeidung von Überheblichkeiten und Realitätsverlust sowie der Verkennung der eigenen Privilegien.
  2. Dissonanz: Dass man die eigenen Inhalte verständlich vermittelt und sich auf möglicherweise ungemütliche Diskussion einlässt bedeutet keineswegs, dass es immer harmonisch zugehen muss. Das ist vor allem deshalb so, weil es schlichtweg Akteur:innen gibt, die keinerlei Interesse daran haben, die vorgebrachten Gründe wirklich nachzuvollziehen oder zu diskutieren. Und manchmal braucht es ungemütliche „Weckrufe“, damit ein Thema überhaupt ernsthaft Inhalt gesellschaftlicher Diskussion wird.
  3. Utopie: Eine soziale Bewegung braucht auch immer eine Vorstellung davon, wie eine andere Welt aussehen und sich anspüren könnte. Dieses Vorbild darf allerdings nicht rigide sein, sondern muss immer auf die konkreten Leiden und Bedürfnisse der Menschen eingehen. Dieser Zukunftswunsch sollte auch als Modell der Gegenwart herhalten und die Bewegung schon im Jetzt zu einem anderen Tun anleiten. Eine Bewegung, in der mit Fürsorge und nicht-hierarchisch auf die Bedürfnisse einer:s jeden geachtet wird, hat es leichter und vor allem schöner beim Erkämpfen einer freien und gerechten Gesellschaft.

 

Gregor Berger ist über den Verein Kontra.Punkt Referent bei der ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus. In Workshops mit ihm werden Vorurteile bekämpft, über den Tellerrand hinausgeblickt und das kritische Denken angeregt.

 

Text: Marie Wabl & Victoria Hemmer