Unsere Welt wird zunehmend dynamischer, Ereignisse und ihre Hintergründe immer schwieriger erklär- und nachvollziehbar und die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen stetig größer und komplexer. Gerade in Zeiten von Klimawandel, COVID-19-Pandemie und globalen Umbrüchen in ökonomischen, politischen und sozialen Systemen neigen wir Menschen dazu, die Ursache-Wirkungs-Beziehungen möglichst rasch, möglichst eindeutig und möglichst im besten Eigeninteresse zu finden und schlüssig zu erklären. Ein Bestreben, das angesichts von Bedrohungsszenarien durchaus seine Berechtigung hat, doch gleichsam Gefahrenpotential aufweist. So können wir Menschen in unserer Suche nach einer schnellen Begründung für Ereignisse und einer damit verbundenen vermeintlich „einfachen Wahrheit“ anfällig werden für sogenannte „Verschwörungstheorien“. Was genau Verschwörungstheorien sind, woran man sie erkennt und wie man die Wahrheit im Dickicht von Spekulation und Fiktion im Blick behalten kann, erklärt in einem Interview ARGE-Referent Jörg Kapeller, der in seinem interaktiven Workshop „Verlockung Verschwörungstheorie“ auf ebendiese eingeht.
ARGE Jugend: was kennzeichnet eine Verschwörungstheorie – woran „erkennt“ man sie?
Jörg Kapeller: Verschwörungstheorien sind natürlich bunt und vielfältig, doch ein paar Dinge haben sie gemeinsam. Sie versuchen uns meist mit starken Gefühlen anzusprechen, damit unser logisches Denken ausgehebelt wird und wir in der Emotion schlechter den Wahrheitsgehalt der angeblichen Verschwörung überprüfen können. Dazu werden schockierende und spektakuläre Statements genutzt, Überraschungsmomente geschaffen oder Gefühle wie Abscheu, Ekel, Hass gegenüber „den Bösen“, die sich angeblich verschworen haben.
Darüber hinaus gibt es noch weitere Kennzeichen, wie zum Beispiel die Verlockung, ab jetzt „einE WissendeR, SehendeR, ErkennendeR” zu sein und zu einem „inneren Kreis“ zu gehören. Diese Zugehörigkeit poliert den Selbstwert auf, man ist jetzt etwas Besonderes. Nicht umsonst fordern AnhängerInnen von Verschwörungstheorien die Bevölkerung oft auf „endlich aufzuwachen”.
Die narrative Struktur, wie Verschwörungstheorien aufgebaut sind, folgt oft einem Muster. Es gibt ein Geheimnis, DrahtzieherInnen, den „großen Beweis”, ProphetInnen und AufdeckerInnen.
ARGE Jugend: was kennzeichnet seriöse Quellen und Informationen?
Die wenigsten von uns haben die Zeit, zu jeder neuen Information selbstständig einen Faktencheck zu betreiben. Wir werden ja konstant beschallt von viel zu vielen Informationen – hier kommen die Nachrichtenorganisationen ins Spiel. Sie sind es, die uns ein Fenster zum Geschehen in der Welt bieten, indem sie für uns auswählen, was Nachrichtenwert hat und was nicht.
Mit etwas Pech können diese Zeitungen, Nachrichtensendungen natürlich auch einmal einen Fehler machen und eine Falschmeldung verbreiten – die Frage ist allerdings, wie oft. Wieviel Energie wird in die Recherche und Überprüfung von Fakten investiert? Seriöse Quellen haben sich in dieser Frage über Jahre einen Ruf erarbeitet. Diesen Quellen kann man auch vertrauen.
Um nun den Bogen zu Verschwörungstheorien zu spannen: sie greifen seriöse traditionellen Medien immer wieder an und beziehen sie bewusst in ihre Verschwörungstheorien ein – etwa mit Verweis darauf, „die Mächtigen und die Medien würden alle unter einer Decke stecken“ und „absichtlich Falschmeldungen bringen“. So versucht sich die Verschwörungstheorie gegen Faktenchecks und Korrekturen zu schützen.
ARGE Jugend: wie kann man Verschwörungstheorien und fake news entgegenwirken?
Jörg Kapeller: Verschwörungstheorien und Fake News leben davon, dass sie an möglichst viele Menschen weiterverbreitet werden. Man kann sich das vorstellen wie einen „narrativen Virus”: eine spannende Geschichte, die immer wieder und wieder weitererzählt wird, und sich dadurch auch verändert und verbessert.
Das erste und wichtigste, was man dagegen tun kann ist, selbst nicht mehr Teil des Problems zu sein – also selbst nicht die Weiterverbreitung zu unterstützen. Dazu kann ich mir gleich selbst folgende Fragen stellen: wie oft gebe ich eine Erzählung weiter, die ich nur aus dritter oder vierter Hand weiss? Sind diese Geschichten unglaublich aufregend und überraschend? Wie kann ich wissen, ob diese Erzählung stimmt? Weiters wichtig sind Gespräche im persönlichen Umfeld, indem man bei AnhängerInnen von Verschwörungstheorien Zweifel säht und das kritische Hinterfragen fördert. Das geht am besten auf der Basis einer vertrauensvollen, persönlichen Beziehung. Schaugefechte in Social-Media-Kommentarspalten sind jedenfalls nicht produktiv – im Gegenteil, sie verhärten nur die Fronten. Gespräche auf Augenhöhe sind wichtig, damit man sich wirklich über Inhalte austauschen kann und dabei niemand sein Gesicht verliert.
ARGE Jugend: Was hältst du für besonders wichtig, Jugendlichen und Erwachsenen mitzugeben, um die Wahrheit im Blick behalten zu können?
Jörg Kapeller: ein kleiner, aber sehr sinnvoller Tipp ist es, sich einmal 15-20 Minuten mit Verschwörungen auseinanderzusetzen, die tatsächlich stattgefunden haben. Es ist ja nicht so, als hätte es solche historisch nie gegeben. Wenn man sich diese genauer angeschaut merkt man schnell, dass echte Verschwörungen ganz anders ablaufen und an´s Licht kommen als die Narrative von Verschwörungstheorien. Das kann mit wenig Aufwand enorm helfen, Realität und Fiktion zu unterscheiden. Und dann gibt es noch einem Trick in der eigenen grundsätzlichen Haltung zu Informationen: wir müssen uns eingestehen, wie viel wir eigentlich nicht wissen und dass wir ständig von Dingen umgeben sind, mit denen wir uns nicht wirklich auskennen. So kennen wir uns kaum oder gar nicht mit den Chemikalien im alltäglichen Haushalt aus oder wissen, wie unser WLAN tatsächlich funktioniert. Diese Ehrlichkeit im Eingeständnis, dass kein Mensch auf der Welt jemals alles wissen und dass es für komplexe Gegebenheiten nie eine einfache und richtige Lösung geben wird, ist das ultimative Kontrastmittel zur Identifizierung von Verschwörungsgläubigen – denn diese meinen, die reine Wahrheit zu wissen und haben auf alles eine einfache Antwort.
Jörg Kapeller, Jahrgang 1978, ist freiberuflicher Pädagoge und Mediator. Als Referent der ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus führt er steiermarkweit Workshops, Vorträge und Seminare zu unterschiedlichen Themenfeldern durch. Seine Schwerpunkte liegen hierbei auf Gewaltprävention und Konfliktmanagement, Miteinander und Vielfalt, Menschenrechte und Demokratie sowie auf dem Umgang mit Medien im gesellschaftspolitischen Diskurs. In seinem neuen Workshop „Verlockung Verschwörungstheorie“ vermittelt der Experte mit spannenden und interaktiven Methoden die Funktionsweise von Verschwörungstheorien und wie man diesen entgegenwirken kann. Ein Highlight dieses Spezialworkshops am Puls der Zeit: im Rahmen des Workshops bekommen die Teilnehmer/innen die Möglichkeit, unter Anleitung eine eigene, neue Verschwörungstheorie zu entwickeln. Spaß und Spannung sind dabei ebenso garantiert wie ein nachhaltiger Lerneffekt. Der Workshop ist in Präsenz und online möglich.