Christian Ehetreiber: Wieviel Zukunft hat Vergangenheit?
Rede zur Gedenkfeier in der Dipoldsau (Gemeinde Weyer) am 8.10.2021

Es ist wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den andern Satz: dass [es] vorwärts gelebt werden muss. (Sören Kierkegard)

 

Sehr geehrter Herr Bürgermeister!

Liebe Verantwortliche des Mauthausen Komitees Dipoldsau-Weyer!

Liebe Siena Brunnthaler, lieber Adi Brunnthaler, lieber Jürgen Eigner!

Lieber Gerhard Niederhofer,

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

Ich bedanke mich bei den Veranstaltern – dem Mauthausen Komitee Dipoldsau/Weyer, dem Verein Frikulum und der Gemeinde Weyer –, dass ich bei Ihrer Gedenkfeier zu Ihnen sprechen darf. Ich heiße Christian Ehetreiber, leite als GF- Obmann die überparteiliche ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus in Graz und bin Mitglied im Grazer Menschenrechtsbeirat.

 

Mit der HLW Weyer und mit dem Verein Frikulum verbindet mich eine langjährige Zusammenarbeit zum Thema „Todesmarsch der ungarischen Jüdinnen und Juden 1945“, zum Thema Flucht während der NS-Zeit, exemplarisch aufbereitet als Jugend-Wanderausstellung „Der Koffer der Adele Kurzweil“, die wir seinerzeit an der HLW Weyer und im Museum Arbeitswelt Steyr präsentieren durften.[1] Ich möchte drei Persönlichkeiten stellvertretend für alle in der Region Weyer engagierten AktivistInnen danken: meinen lieben Freunden Adi Brunnthaler, Robert Gradauer und Siena Brunnthaler. Ich darf herzliche Grüße des Eisenerzer Bürgermeisters Thomas Rauninger und des Kulturreferenten Gerhard Niederhofer an Sie alle im Geiste der Zusammenarbeit für eine neue Erinnerungskultur überbringen.[2]

 

Wieviel Zukunft hat Vergangenheit? Diese diese Frage ist für einen politischen Bildner und Umsetzer von Erinnerungsprojekten einfach zu beantworten: Wer sich den blutgetränkten Widerstreit zwischen Diktaturen und der Demokratie im „Zeitalter der Extreme“[3] – wie der Historiker Eric Hobsbawm das „kurze 20. Jahrhundert“ bezeichnet – interdisziplinär aneignen will, der wird am „unvollendeten Projekt der Aufklärung und der Demokratie“ aktiv mitgestalten können.[4] Er oder sie wird eine liberale Gesellschaft mit Parteienpluralismus und sozio-kultureller Vielfalt weiterentwickeln helfen. Die interdisziplinäre Aneignung der Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinstrahlt und Entwürfe unserer Zukunft prägt, liefert dazu eine detailreiche Reflexionsfolie für Demokratie- und Menschenrechtskompetenz.

 

Unsere Zweite Republik wie auch die Europäische Union zeigen eindrucksvoll, dass die Verantwortungsträger in Politik, Wirtschaft, Medien, Sozialpartnerschaft und Zivilgesellschaft von Auschwitz, vom Zweiten Weltkrieg und von antidemokratischen Strömungen sehr viel gelernt haben, um unserer heutigen Gesellschaft in Europa eine ganz andere Richtung zu geben, als das von den ideologischen Extremisten des 20. Jahrhunderts geplant war und mit millionenfachem Mord umgesetzt wurde. Vernichtungslager, Eiserne Vorhänge, Massenerschießungen, Gulags, politische Gewalt und staatlicher Terror sind in Österreich, in der Europäischen Union und vielen weiteren westlichen Demokratien keine mehrheitsfähige Option mehr. Diese Selbstverständlichkeit sollten wir uns viel öfter in Erinnerung rufen, wenn wir unseren Blick nach Syrien, Afghanistan, in den Sudan und in andere Elendsregionen richten. Mein lieber Freund Franz Küberl, Caritas-Präsident a.D., brachte diese positive Entwicklung Österreichs und Europas nach 1945 auf den Punkt: „Wir sind 1945 der Hölle entronnen und bis heute fast bis an den Himmelsrand gekommen!“[5]

 

Die Zweite Republik hat alles besser gemacht als die Erste, sie ist ein beeindruckendes Erfolgsmodell, um das uns die meisten unterdrückten Menschen in den Unrechts- und Gewaltsystemen unserer Zeit beneiden! Die Europäische Union ist in jeder denkbaren Hinsicht menschenfreundlicher, leistungsfähiger, sozialer und sicherer als jene Bündnissysteme des 19. Jahrhunderts, die den Kontinent in zwei Weltkriege, in Massenarbeitslosigkeit, Not, Elend und Verwüstung gestürzt haben. Unsere Gegenwart gleicht daher im historischen Vergleich einem locus amoenus, einem „Vorgarten Eden“, wie uns ein Blick in die Nachrichtensendungen jeden Abend vor Augen führen. Ist in Anbetracht der positiven Entwicklungen seit 1945 also alles paletti? Alles eitel Wonne und Griesschmarr´n?

 

Gestatten Sie mir, an Sir Winston Churchills Bonmot zur Demokratie zu erinnern: “Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.” Mit unserer westlichen Demokratie, meine Damen und Herren, verhält es sich wie mit unserem kristallklaren Gebirgswasser, mit unserer sauberen Luft, mit ausreichend vorhandener Erwerbsarbeit, mit Wohlstand, mit unserer Gesundheit oder mit den Leistungen unseres Sozialstaates: Solange wir über diese Güter verfügen, fällt uns ihr Wert gar nicht auf. Wir reihen diese Güter ein ins Reich der Selbstverständlichkeiten, in dem die Arroganz, die Eitelkeit, die Gleichgültigkeit, die Undankbarkeit, die konsumverliebte Saturiertheit und die Behäbigkeit regieren. Wir bemerken den Wert dieser Güter erst dann, wenn diese zu bröckeln beginnen, erodieren oder verschwinden. Die Crux all dieser Erosionsprozesse wertvoller Güter besteht darin, dass diese zumeist nicht von Jetzt auf Dann sich vollziehen, sondern sich als jahrzehntelanger Verfallsprozess ereignen.[6]

 

Die hart erkämpften Errungenschaften auf dem dornenreichen Weg zur liberalen Demokratie sind leider nicht für alle Zeiten gesichert. Ich darf in Thesenform sechs Herausforderungen der liberalen Demokratie aufzählen:

 

  1. „Die Ursache sind wir selber“ oder der wohlstandssaturierte Bürger, der nur Rechte ohne Verpflichtungen wünscht!

Vier Trends sind zu beobachten:

  • Verwechslung des Staates mit einem Selbstbedienungsladen
  • Grundrechte und Leistungen ohne Verpflichtungen und Verantwortung
  • Abwälzung von Verantwortung „an die da oben“, immer aber an jemand anderen
  • Unterentwickelte Bereitschaft für die Beteiligung am politischen Prozess[7]

 

  1. Politik ist jene Branche in der Mitbewerber sich als Verbrecher diffamieren

Zweierlei Maß, Lügen, Geschwurbel, Camouflage, Intrigen, Korruption, Skandale, Vetternwirtschaft und was denn noch alles? Meine Damen und Herren, Politik ist – verstärkt durch Medien und Marketingmaschinerien – großteils zu einem Betrieb verkommen, mit dem die meisten BürgerInnen nicht einmal mehr anstreifen wollen. Wer will es ihnen verdenken?

 

  1. „Tektonische“ Verschiebung der Fundamente von Sachpolitik zum Politikmarketing

Die Verschiebung der Fundamente von Politik hat sich seit Josef Haslingers „Politik der Gefühle“ (1986) radikalisiert. Politik gründet auf vernunftgeleiteter Sachpolitik, auf politisch-ideologischer Programmatik, auf BürgerInnenbeteiligung und auf Politikmarketing. Die Transformationen im Fundament des Politischen führten zur millionenschweren Entfesselung des Politikmarketings auf Kosten und zu Lasten qualitätsvoller Sachpolitik, ersetzten BürgerInnenbeteiligung durch politische Pseudorituale und erzeugten spürbare Aushöhlung der politisch-ideologischen Programmarbeit für eine gerechtere Gesellschaft.

 

  1. Die Lange Bank mit Verharren in Problemen, anstatt zügig Lösungen zu entwickeln

Die Transformationen im Fundament des Politischen führten zu einer unentwegten Nichtlösung der großen Probleme unserer Gesellschaft: vom Klima- und Umweltschutz über ambitionierte Konzepte für Migrations- und Asylpolitik, einer fairen Entwicklungspolitik bis zur Sicherung der Pflege, des Gesundheitswesens und des Pensionssystems. Dies verschärft die Entfremdungsphänomene der BürgerInnen von der Politik, devastiert das Ansehen von Politikern, Parteien und Institutionen.

 

  1. Ultra-High-Speed-Gesellschaft erzeugt Regressionsmuster und Überzählige

Unsere Gesellschaft entwickelte sich zu einer beispiellosen Ultra-High-Speed-Gesellschaft. Es dominieren Effizienz und Effektivität in allen Lebensbereichen Der Modus digitaler Permanenzbeschleunigung überfordert immer mehr Menschen, hängt sie als Überzählige ab und lässt die besonnene politische Entscheidungsfindung als behäbiges Retrosystem erscheinen. Wer sich vom Ultra-High-Speed überfordert fühlt, wer vom Arbeitsmarkt ausgesondert wird, der entwickelt regressive Handlungsmuster: vom Zudröhnen mit Alkohol und illegalen Substanzen bis zur Hinwendung zu politisch extremen Gruppierungen.

 

  1. Entfesselter Hyperbürokratismus mit Bevormundung und Regulierungswahn

Der entfesselte Hyperbürokratismus missversteht den zunehmenden Regulierungs- und Bevormundungswahn als Allheilmittel. Der freisinnige Bürger erlebt die in alle Lebensbereiche vorgedrungene Hyperbürokratisierung jedoch als permanente Freiheitsberaubung.

 

  1. Assistierter Suicid öffnet die Büchse der Pandora[8]

Gerade vor der vitalen Gedenkkultur in der Dipoldsau in Weyer will ich auf ein aktuelles Beispiel von Dehumanisierung hinweisen, bei dem das Motto „Wieviel Vergangenheit braucht unsere Zukunft?“ augenscheinlich wird: die Rede ist von der vom Verfassungsgerichtshof jüngst genehmigten Möglichkeit zum assistierten Suicid, der von der Bundesregierung gesetzlich umzusetzen ist. Die Stadt Graz (BGM Siegfried Nagl und Altbürgermeister Alfred Stingl), unterstützt vom Grazer Menschenrechtsbeirat, richtete eine Petition an die Bundesregierung, diesem assistierten Suicid allerengste Grenzen zu setzen, um nicht die sprichwörtliche Büchse der Pandora zu öffnen: dass nämlich Ärzte unheilbar Kranken auf deren expliziten Wunsch behilflich beim Suicid sein zu müssen. Die Grazer Petition plädiert im Sinne Kardinal Königs – Menschen mögen an der Hand und nicht durch die Hand eines Menschen in Menschenwürde sterben können – für einen bedarfsgerechten Ausbau von Hospiz- und Palliativstationen und einer zügigen Weiterentwicklung von Schmerztherapien.

 

Plädoyer für Optimismus und Zuversicht im Geiste der „Philosophie des Noch“

Zum Schluss meiner Rede möchte ich jedoch ein Plädoyer für ungebrochenen „Optimismus“ mit Vernunft, Herz und Handlungsbereitschaft stellen, ein Plädoyer, sich in jeder erdenklichen Form trotzdem politisch zu engagieren. Worin bestünde denn die Alternative?

 

Der Sozialpsychologe Steven Pinker führte in seinem Monumentalwerk „Gewalt. Eine andere Geschichte der Menschheit“ den Nachweis, dass die Gewalt rückläufig ist, was beim ersten Hinhören seltsam klingen mag:

 

„Zunächst muss ich Sie überzeugen, dass die Gewalt im Laufe der Geschichte tatsächlich abgenommen hat. […] Zwischen dem Spätmittelalter und dem 20. Jahrhundert erlebten die europäischen Staaten einen zehn- bis fünfzigfachen Rückgang [sic!] der Mordquote. […] Bürgerkriege, Völkermord, Unterdrückung durch selbstherrliche Regierungen und terroristische Anschläge – sind auf der ganzen Welt seit dem Ende des Kalten Krieges 1989 zurückgegangen.“ (Pinker, Gewalt, S. 12-16)

 

Ich schließe mit Bothos Strauss´ aufmunternder „Philosophie des Noch“: Noch leben wir in einer Demokratie. Noch engagieren sich ausreichend viele BürgerInnen. Noch funktionieren unsere Institutionen. Noch herrschen Verfassung, Recht, Gewaltenteilung. Noch erheben wir Einspruch gegen Unrecht. Noch ist nicht aller Tage Abend. In dem Sinne: Nutzen wir, meine Damen und Herren, die „Philosophie des Noch“, um unsere Demokratie und unser aller Zusammenleben im Geiste der Menschenrechte weiterzuentwickeln! Vielen Dank!

 

 

Anmerkungen

[1] Vor zwei Jahren war ich zu Gast bei der Enthüllung der Gedenktafel des Vereins Frikulum zur Erinnerung an die Opfer des Todesmarsches in Kastenreith bei Weyer. Die HLW Weyer war kurz darauf bei uns zu Gast in Eisenerz beim „Lebensmarsch zum Todesmarschmahnmal in Eisenerz“.

[2] Möge diese länderübergreifende Erinnerungskultur mit Zukunftsbezug von der jüngeren Generation fortgesetzt werden, im achtsamen und respektvollen Erinnern an die Opfer faschistischer Gewaltherrschaft, aber auch in der Nutzung der dunklen Kapitel der Zeitgeschichte für die Demokratie- und Menschenrechtsbildung zur Auslotung von individuellen und gemeinschaftlichen Handlungsspielräumen für Menschenrechte, Demokratie, Frieden und Freiheit!

[3] Der Historiker Eric Hobsbawm spricht in seinem Werk „Das Zeitalter der Extreme“ vom langen 19. und vom kurzen 20. Jahrhundert, das von der Russischen Revolution 1917 bis zum Zerfall der Sowjetunion 1991 stimmig einzugrenzen ist.

[4] Eine interdisziplinäre Aneignung des „kurzen 20. Jahrhunderts“ fokussiert zum besseren Verständnis von Geschichte die Grundstrukturen, die Prozessarchitektur und die mentalen Mindsets (Glaubenssätze, Handlungs- und Attributionsmuster, Narrative).

[5] Mit Fug und Recht bezeichnete Papst Paul VI. in den 1970er Jahren Österreich als eine Insel der Seligen!

[6] Maria Cäsar, Zeitzeugin und Widerstandskämpferin, die 15 Monate in GESTAPO-Haft überlebte, schärfte den Jugendlichen und den Lehrenden in über 500 Schulworkshops immer wieder ein: „Ihr dürft euch den Siegeszug des Faschismus nicht so vorstellen, dass heute Demokratie herrschte und ein paar Wochen später die Nazis. Die Demontage der Demokratie ereignete sich scheibchenweise, Schritt für Schritt.“ Dies geschah, weil zu viele BürgerInnen die Zeichen der Zeit nicht lesen, nicht deuten und daher nicht angemessen einschreiten konnten; weil zu vielen BürgerInnen alles zu mühsam war, um sich klar gegen den Faschismus zu positionieren; weil zu viele BürgerInnen sich mit dem NS-System arrangiert und es sich opportunistisch gerichtet haben; weil zu viele BürgerInnen auf Sündenbockproduktion, repressive Politik, auf soziale Ausgrenzung der Missliebigen, auf Einheilsvisionen und Führerkult abfuhren. Die Demontage der Demokratie geschah auch, weil im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an totalitären Ideologien, extremistischen Politikkonzepten und Gewalt in jeder Form ein Überangebot herrschte, die Demokratien zunächst auf aussichtslosem Posten standen und weil sie eben keine „Geschichte als große Lehrmeisterin“ zur Verfügung hatten, über die Sie und ich heute wie über einen riesengroßen Werkzeugkasten für angewandte Zukunftsgestaltung verfügen können.

[7] Der wohlstandssaturierte und politikferne Bürger eröffnet die Einfallstore für die Feinde der Demokratie. Der permanent schimpfende Rohrspatz ist sein Wappentier, der Suderer, Raunzer, Nörgler und Besserwisser sind die Hauptrollen dieser Marodeure in unserer Demokratie. Statler und Waldorf aus der Muppets-Show sind die Vorbilder an Stammtischen wie auch auf Facebook, Twitter und Co.

[8] Punkt 7 wurde der Rede nachträglich beigefügt!