Wie junge Menschen mit und ohne Migrationsbiografie durch Persönlichkeitsstärkung und Mentaltraining wachsen können

Sich selbst kennen, innere Stabilität und mentale Gesundheit sind Grundpfeiler einer vitalen Lebensweise eines jeden Menschen. Vor allem im jungen Erwachsenenalter entwickeln sich das Reflexionsvermögen und die Persönlichkeit eines Menschen intensiv. Werden Reflexionsvermögen, Resilienz und Persönlichkeit von jungen Menschen gestärkt, wirkt sich dies meist sehr konstruktiv auf das spätere private sowie berufliche Leben aus. Denken wir nur daran, dass ein junger Mann eine Absage einer Universität oder Lehrstelle bekommt. Der Umgang mit dieser Absage hängt von den externen und internen Ressourcen, auf die der Jugendliche zurückgreifen kann, ab. Hat der junge Mann gelernt, zu kontextualisieren und das Ereignis im großen Ganzen zu sehen, – sprich, zu analysieren, was er im Bewerbungsgespräch schlecht aber vor allem auch gut gemeistert hat, welche von ihm unbeeinflussbaren Gründe es für die Absage geben könnte und dass es weitere Stellenangebote geben wird, die für ihn vielleicht sogar besser passen, – wird er weiterhin ermutigt sein, sich für Jobs zu bewerben und im besten Fall aus dem ersten Versuch lernen. Hat der Jugendliche jedoch kein Vermögen, die Absage in einen größeren Kontext zu setzen sowie ein niedriges Selbstwertgefühl, kann es passieren, dass er in Selbstzweifel versinkt, sich perspektivenlos fühlt und entmutigt ist, sich bei anderen Stellen zu bewerben.

 

Während jede/r Jugendliche auf schwierige Situationen beruflicher, schulischer, sozialer oder familiärer Herkunft stößt, sind die Herausforderungen für Menschen mit Migrations- und Fluchtbiografie oft noch vielschichtiger. Wie Mentaltraining als Methode der Persönlichkeitsstärkung junge Menschen mit (und ohne) Migrationsbiografie unterstützen kann und welche Methoden Sie selbst anwenden können, um Jugendliche zu sensibilisieren, stellt Denise Diex in ihrem Interview mit der ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus vor. Denise Diex ist Referentin der ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus und Gründerin der OG Migrabilis Potenzialentfaltung, welche (Bildungs-)Kurse, Workshops und Mentaltraining für Menschen mit Flucht- bzw. Migrationsbiografien anbietet.

 

Abb. 2 © Migrabilis

Warum ist Mentaltraining für (junge) Menschen mit Migrationsbiografie wichtig?

Denise Diex: „Ich denke, dass der Zugang und die Techniken von Mentaltraining grundsätzlich für alle Menschen gewinnbringend sein können. Wir alle stehen im Leben immer wieder vor Herausforderungen, in denen ein positives Mindset und Selbstachtung einen wesentlichen Unterschied machen können.

Der Lebens- und Erfahrungsraum von Menschen mit Migrationsbiografien ist (aus meiner Sicht) als mental besonderes herausfordernd einzuschätzen.

Defizitorientierung in der Gesellschaft, Tendenzen zur Kulturalisierung, Erfahrungen von Diskriminierung, eingeschränkte Möglichkeiten bzw. Barrieren im Bildungssystem usw. – Es gibt vielfältige Faktoren, die sich gleichzeitig negativ auf den Selbstwert und die erlebte Selbstwirksamkeit auswirken können.

Mentaltraining kann dabei helfen, den Glauben an sich selbst und ein selbstwertdienliches Denken zu trainieren. So können Menschen mit Migrationshintergrund ihrer herausfordernden Lebenswelt reflektiert und mit Selbstvertrauen begegnen. Mehr innere Stärke zu haben bedeutet auch zu wissen, dass der eigene Wert nie im Außen bestimmt werden kann.

Es kann aktiv an einer achtsamen und selbstwertdienlichen Art zu Denken gearbeitet werden.“

 

Was ist beim Mentaltraining für Menschen mit Migrationsbiografie besonders zu beachten, was ist gleich und was ist anders als beim Mentaltraining für Menschen ohne Migrationsbiografie?

Denise Diex: „Wir alle haben innere Glaubenssätze. Unser Denken und unser Selbstwert werden durch unsere Erfahrungen und die Gesellschaft, in der wir leben, geprägt. Und uns allen tut es gut, uns selbst zu reflektieren und an unserer Selbstliebe zu arbeiten. Die Themen und Techniken des Mentaltrainings betreffen uns alle gleichermaßen.

Einige der mentalen Herausforderungen von Menschen mit Migrationsbiografien können jedoch sehr spezifisch sein, wie z.B. das Verlassen von Heimat, Identitätsfindung zwischen Kulturen oder Diskriminierung aufgrund von Herkunft/Religion. Im Mentaltraining geht es dann darum, allgemeine Theorien und Techniken auf diese spezifischen Themen umzulegen und anzuwenden.

Besonders zu beachten ist auch das Bewusstsein und die Einstellung zu psychischer und mentaler Gesundheit. Meine Beobachtung, vor allem im Bereich Flucht (also, wenn Menschen noch nicht lange in Österreich sind) hat mir gezeigt, dass in manchen Herkunftsländern der psychischen Gesundheit weniger Bedeutung beigemessen wird. Das hat wiederum Einfluss darauf, inwieweit Menschen es gewohnt sind, sich selbst zu reflektieren oder über ihre Gefühle offen zu sprechen.“

 

Welche Grundsätze sind zu beachten, wenn man Methoden des Mentaltrainings mit (jungen) Menschen mit Migrationsbiografie anwendet?

Denise Diex: „Es spielt immer eine Rolle, mit welcher Zielgruppe man genau arbeitet.

Je nach Migrationsbiografie der Menschen, mit denen man arbeitet, kann das Thema der sprachlichen Reduktion sehr wichtig sein. Wir arbeiten in unseren Workshops daher sehr gerne mit vielen Bildern und Metaphern. Dadurch kann eine andere Art von Emotion erreicht werden und die Verinnerlichung kann unabhängig von der Sprache leichter erfolgen.

Neben der sprachlichen Reduktion kann auch eine didaktische Anpassung notwendig sein. Es ist wichtig, ein Gefühl dafür zu haben, welches Wissen aus den Bereichen Psychologie schon vorhanden ist bzw. inwieweit die Menschen es bereits gewohnt sind, in die Selbstreflexion zu gehen. Darauf muss die Auswahl der Themen und Techniken und die Reihenfolge der Bearbeitung unbedingt abgestimmt werden.“

 

Was sind deine 3 Lieblingsmethoden des Mentaltrainings für (junge) Menschen mit (und ohne) Migrationsbiografie?

Der Geschichten-Erzähler

Denise Diex: „Ich nutze gerne die Metapher unsers inneren Geschichten-Erzählers, um die Funktionsweise unseres Verstandes und menschlicher Denkmuster zu beschreiben.  Der innere Geschichten-Erzähler steht für all das, was unser Verstand uns erzählt, was unsere Gedanken sind.

Beispiele: Unser Geschichten-Erzähler…

  • …hat die Aufgabe, uns die Welt zu erklären und erzählt uns zu allem eine Geschichte
  • …gute und ausreichende Informationen sind ihm nicht immer wichtig
  • …mag vor allem Geschichten, in denen er gut dasteht
  • …hat gerne recht
  • …sucht gerne Informationen, die ihm das bestätigen, was er glaubt
  • …versucht uns zu schützen

Die Metapher des inneren Geschichten-Erzählers bietet eine nützliche Möglichkeit, sich selbst beim Denken zu beobachten. Über diese Metapher ist es aus meiner Erfahrung gut möglich, zu erklären, wie Vorurteile entstehen und warum sie sich so gut halten. Es ist eine gute Hilfe, um sich immer mehr bewusst zu werden, dass wir Menschen einen Verstand und Gedanken haben, aber nicht unsere Gedanken sind. Wir können sie beobachten und damit auch beeinflussen.“

Reframing

Denise Diex: „Das Reframing ist eine Methode, um eine bestimmte Problemsituation zu analysieren und zu reflektieren. Konkret geht es dabei darum, dem Problem einen „neuen Rahmen“ zu geben. Das bedeutet, die Problemsituation wird in einen neuen Kontext gestellt, wodurch auch eine neue Bedeutung und Bewertung entstehen kann.

Der Fokus des „neuen Rahmens“ soll im Idealfall ressourcen- und lösungsorientiert sein und sich darauf konzentrieren, was man selbst aktiv im Kontext des Problems tun kann.

Beispielsweise kann ein Fall von erlebter Diskriminierung mit Reframing bearbeitet werden. Der „neue Rahmen“ der Situation könnte beispielsweise neu erlernte Techniken aus dem Mentaltraining enthalten, die mehr innere Abgrenzung ermöglichen. So kann einer Situation mit mehr Selbstvertrauen begegnet werden.“

AHA-Meditation

Denise Diex: „Die AHA-Meditation ist eine kleine und einfache Methode, die uns helfen kann, wenn sich Gedanken im Kreis drehen. Viele kennen das vielleicht am Abend vor dem Einschlafen.

Wie es funktioniert?

Man schließt die Augen und stellt sich den eigenen Verstand wie eine Art Fernsehprogramm vor. Man beobachtet dann bewusst, welche Gedanken gesendet werden und am Bildschirm erscheinen. Man schaut kurz hin, denkt sich AHA und „schaltet einfach weiter“. >Morgen muss ich Wäsche waschen…AHA< >Die Schularbeit morgen wird sicher schwer…AHA<

Über die AHA-Meditation merken wir, dass wir unseren Gedankenfluss bewusst beobachten und auch stoppen können. Diese kleine Übung kann in unterschiedlichen Situationen zur Anwendung kommen.“

 

Mentaltraining als verbindende Brücke zwischen Menschen

Abb. 3

 

Worin besteht das besondere Potenzial des Mentaltrainings, es als verbindendes Tool zwischen Menschen mit und ohne Migrationsbiografie anzuwenden?

Denise Diex: „Mentaltraining bedeutet, sich mit den eigenen Gedanken und Gefühlen zu beschäftigen. Wenn wir das tun – vor allem gemeinsam mit anderen – wird uns bewusst, wie ähnlich wir uns sind. Selbstzweifel, blockierende Denkmuster und limitierende Glaubenssätze – wir alle haben sie. Bewusstes Reflektieren bedeutet, nicht nur sich selbst, sondern auch andere besser verstehen zu können. Mehr Empathie bedeutet wiederum vor allem auch im Bereich Migration, dass Vorurteile abgebaut werden können.“

 

Autorin: Verena Ulrich

 

Weiterführendes Material:

Bildungs- und Unterrichtsmaterial zum Thema Migration und Flucht des UNHCR und ÖIF „Aufbrechen.Ankommen.Bleiben_Bildungsmaterial zu Flucht und Asyl“

 

Fotoverweis:

Abb. 1: von Alessandro Erbetta auf Unsplash

Abb. 2: © Migrabilis

Abb. 3: von Miriana Dorobanțu auf Unsplash