Ich bin Ahmad, ein Mensch

Wir erzählen die Geschichte eines jungen Mannes aus Syrien, der die Entscheidung getroffen hat, seine Zukunft in Österreich aufzubauen – und dafür einen hohen Preis bezahlt.

Ich bin Ahmad – auf der Suche nach einem Leben in Menschenwürde.

Wer bist du und wie sah dein Leben früher aus?

Ich wurde 1992 in der Provinz Idlib in Syrien geboren. Ich bin Araber und Moslem – aber ich möchte, dass Sie meine Geschichte ohne Glaubens- oder Nationalzugehörigkeit lesen. Meine Familie gehörte zur Mittelschicht, mein Vater war Händler und führte ein Geschäft. Meine Mutter war Kindergärtnerin und Hausfrau. Ich habe zwei kleine Zwillingsbrüder und zwei Schwestern, deren Kinder ich teilweise nur vom Telefon kenne, noch nie gesehen habe. Ich liebe meine Familie sehr. Das Leben meiner Familie und des restlichen syrischen Volkes war vor dem Krieg wie das einer normalen Familie hier in Österreich. Die Kinder gingen in die Schule, Jugendliche an ihre Universitäten, Eltern gingen zur Arbeit und man hatte ein Zuhause. Ich habe auch studiert, Sozialpädagogik in Homs. Aber leider konnte ich das Studium nicht abschließen. In den Ferien habe ich gearbeitet, bin in das ferne Libanon gegangen, um dort für meine Familie etwas Geld dazu zu verdienen.

Abdul Aziz Al Musa ist der Großvater von Ahmad, ein preisgekrönter Autor, der von der Bevölkerung sehr geschätzt wird – auch für seine kritische Haltung.

Mein Opa ist Schriftsteller und hat für seine Bücher viele Preise gewonnen. Er hat Romane verfasst, aber auch Bücher, die die Gesellschaft und Politik von Syrien kritisieren. Mit ihm habe ich oft über Literatur und Gesellschaft diskutiert.

 

Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, Kafranbel, ist sehr berühmt für ihre Kritik an dem vormaligen Diktator Hafez Al Assad, dem Vater des jetztigen Diktators Baschar Al Assad. Der Hass des Regimes war sehr groß gegen meine Heimatstadt. Wir hatten keine Anbindung an die großen Autobahnen, man hat versucht uns auszuschließen und die Menschenrechte wurden missachtet. Mein Studium in Homs gab mir Hoffnung, ich konnte von meiner Stadt entfliehen. Dann kam der Tag wo man die Bezirksgrenzen nicht mehr überqueren durfte. Ich fand mich in einer wilden und bösen Umgebung wieder.

Das Klima in der Provinz Idlib ist ideal für das Gedeihen von Obstplantagen und Olivenhainen.

Die Stadt Kafranbel in der Provinz Idlib. Ein Foto aus Tagen vor der Zerstörung durch den Krieg.

 

 

 

Warum hast du dich zur Flucht entschlossen?

In meinem Land geschah etwas, das alles veränderte. Ich kann in keiner der Weltsprachen das Gefühl beschreiben, das man hat, wenn ein Hubschrauber ein Sprengstoff-Fass auf dich wirft. Das diktatorische Regime hat explosive Materialien und verbotene giftige Gase abgeworfen. Der Krieg war sehr abscheulich, tötete Kinder, Frauen, Alte – und er zerstörte Träume. Diktator Baschar Al Assad hat junge Männer zwischen 18 und 47 Jahren gezwungen sich der Armee anzuschließen. Auch die bewaffnete Opposition drängte junge Menschen sich ihnen anzuschließen und gegen das Regime zu kämpfen. Ich wollte nicht kämpfen und töten und bin in die Türkei gegangen. Dort habe ich ein Jahr gelebt, ich habe gearbeitet aber nur die Hälfte meines Lohnes bekommen, manchmal gar nichts. In der Türkei habe ich Menschen getroffen, die Syrer oft nicht gut behandelt haben, sie haben uns angesehen als wären wir keine Menschen wie sie, wir hatten keine Rechte. Oft habe ich an meine Familie gedacht und mich gefragt „sind sie in Ordnung?“. Ich habe sie so sehr vermisst und bin zurück gekehrt in meine Heimat um es erneut zu versuchen. Als ich zurück kam, war es noch schlimmer, der Krieg zerstörte mehr als die Hälfte des Landes. Ich war jeden Tag in meiner Stadt Zeuge der schlimmsten Art von Ungerechtigkeit, von Blut. Und ich weiß – diese Realität ist anders als ich. Ich gehöre nicht zu einer Gesellschaft mit Mord und Ungerechtigkeiten, mit Hass und Gewalt. Ich bin ein Mensch und möchte Gutes tun, ich möchte helfen. Ich habe mich gemeldet als Ehrenamtlicher in Organisationen zu arbeiten, die Flüchtlingen aus anderen Gebieten helfen. Eines Tages habe ich in einem Keller geschlafen in einer Stadt, wo ich war um zu helfen. Die Stadt wurde bombardiert, alles war durcheinander und ich begann mich zu fragen, was ich hier täte. Flucht war keine Entscheidung, ich war gezwungen. Wenn ich als Mensch leben wollte, musste ich gehen. Ich habe mich von meiner Familie verabschiedet und das Haus am 3.3.2015 verlassen. Es war Dienstag, 6 Uhr morgens.

Die ersten Spuren der Zerstörung in Kafranbel.

Bombenangriffe in Syrien werden zur alltäglichen Bedrohung – auch für die Zivilbevölkerung.

Welche Gedanken haben dich auf der Flucht begleitet?

Ich habe mein Leben, meine Familie, und Beziehungen hinter mir gelassen. Die Gesundheit meiner Eltern erlaubte ihnen die Flucht nicht, auch die finanzielle Situation war schwierig. Jeder musste mindestens 5.000 Euro an Schmuggler bezahlen. Ich habe gewusst, dass Schmuggler Kriminelle sind, aber man muss leider mit Verbrechern zusammen arbeiten, wenn man flüchten will. Für meine Eltern und meine Geschwister war das zu viel Geld. Ein normaler Verdienst im Monat war 100 Euro und meine ganze Familie hat geholfen, das Geld für mich zusammen zu bringen. Ich lebe ihren Traum. Ich muss es schaffen, weil das die Hoffnung meiner Liebsten ist.  Es war ein schwieriger Weg. Die Grenze in die Türkei zu überqueren war sehr gefährlich, besonders für Familien war es sehr schwer. Ich habe es geschafft. Dann musste ich weiter. Was motivierte mich mich in die Ägäis zu werfen und meine Seele einer kleinen Welle zu überlassen? Ich fragte mich das, während ich auf einem Schlauchboot war. Auf diesem Boot sind 50 Menschen, die ein gutes Leben suchen, ein sicheres Leben, das ihre Rechte als Mensch achtet. Nach dunklen und schwierigen Nächten in vielen Wäldern flüchtete ich vor der Polizei obwohl ich kein Verbrechen begangen habe. Mein Verbrechen war es, dass ich nach Leben suchte. Dafür musste ich es erfahren wie es ist sich als Ware zu fühlen. Eine Ware mit der Menschen Geld verdienen, eine Ware die behandelt wird ohne menschliche Rechte. Aber ich hatte ein Ziel: ich wollte einen Ort finden, der mich als Mensch respektierte.

Wie ging es weiter?

Ich bin nach Österreich gekommen, habe in einem kleinen Dorf in der Süd-Steiermark gelebt. In der Flüchtlingsunterkunft haben ungefähr 20 Männer gewohnt, jeder mit seiner eigenen Geschichte, jeder mit seinen eigenen Erlebnissen, die er vergessen wollte, jeder mit einer Familie und Freunden in seiner Heimat, die er verlassen musste, oder die bereits Opfer des Krieges wurden. Es war eine lange Zeit, die jeder von uns verbringen musste und warten bis das Asylverfahren fertig war. Ich habe ungefähr ein Jahr gewartet, ein Jahr, in dem dein Leben irgendwie aufhört, ein Jahr in dem du als Person Pause hast. Deine Hoffnungen und Träume schweben in der Luft, du kannst nichts daran ändern, nur warten. Das Leben kann erst wieder aufgenommen werden, wenn man eine Aufenthaltserlaubnis als Flüchtling hat.
Das Leben gibt uns aber nicht nur negative Dinge. Ich habe Österreich als sehr schönes Land kennengelernt und sehr nette Leute getroffen. Wunderbare Menschen haben mich unterstützt, die Integration war nicht die große Herausforderung – aber das Erlernen der Sprache. Ich habe eine Zeit lang bei einer Familie in der Steiermark gelebt, die mir viele Ratschläge gegeben hat, sie wurde zu meiner Familie. Mein Traum ist es mein Studium fortsetzen zu können. Aber das Studium in Österreich ist auf einem sehr hohen Niveau und ich brauche Geld. Ich habe erkannt, dass die Arbeit die Brücke sein wird, die mich zu meinem Studiumsabschluss führen wird. Ich habe in einer sozialen Organisation gearbeitet, in verschiedenen Restaurants und meine Sprache verbessert. in der zweiten Hälfte des Jahres 2018 habe ich bei einem Autohersteller begonnen und arbeite dort bis heute.

Welche Schwierigkeiten hast du in fünf Jahren in Österreich erlebt?

Das Leben in Österreich ist kompliziert und vieles für Fremde schwer zu verstehen. Ich denke vor allem an die Zeit als Asylwerber, die vielen Anträge und Wege zu Behörden. Dann, sobald man endlich den Status als anerkannter Flüchtling hat, kommen neue Fragen. Es ist ein großes Glück, wenn du weißt dass du in Österreich bleiben darfst, man dafür hat so viel ertragen. Aber es ist schwer Arbeit zu finden, du musst vorher gut Deutsch lernen, verstehen wie man in Österreich sich für einen Job bewirbt. Das System mit der Krankenkasse, mit dem AMS, mit den Steuern – das ist alles anders als man es von zuhause kennt. Da gibt es viele Fragen und Missverständnisse. Vieles, das für Österreicher normal ist, ist für uns ganz neu. Da hilft es, wenn man Freunde hat, die einem helfen. Ich habe Hilfe bekommen von syrischen Freunden. Die wichtigste Hilfe habe ich aber von Österreichern bekommen, die sich ehrenamtlich um mich gekümmert haben. Ohne sie wäre es schwer gewesen und ich hätte viel mehr Fehler gemacht. Ich habe immer gewusst, dass viele Menschen in Österreich keine große Freude haben mit Flüchtlingen. Manche Flüchtlinge sind dumm und machen Dinge, die sie nicht dürfen, die nicht gut sind. Und es gibt Österreicher, die glauben, dass alle Syrer so sind, und alle Afghanen und andere Flüchtlinge. Aber das stimmt nicht. Die meisten von uns wollen ein neues gutes Leben beginnen in Österreich und wollen keine Probleme machen. Manche Fehler passieren, weil es Unterschiede gibt in der Kultur und in der Gesellschaft von Österreich und zu einem anderen Land. Da müssen wir viel lernen. Aber wir sind keine schlechten Menschen und wollen nichts Böses. Ich bin ein sehr vorsichtiger und freundlicher Mensch und respektiere andere. Ich glaube, das merken die Österreicher. Bisher habe ich zum Glück noch keine Erfahrungen gemacht, dass mich jemand hasst.

Wie geht es deiner Familie in Syrien?

Es ist nicht einfach die Familie zu verlieren, sich zu verabschieden und zu wissen, dass man sich wahrscheinlich nie mehr wieder sehen wird. Und man lebt die ganze Zeit nervös, sieht die Nachrichten und weiß, sie sind jeden Moment in Gefahr. Ich habe immer versucht sie möglichst oft zu erreichen, mit ihnen zu telefonieren. Und jeden Tag lebe ich mit der Angst, dass ich den Kontakt zu ihnen verliere…

Seit Jahren hält Ahmad den Kontakt zur Familie aus der Distanz und verfolgt die Kriegsentwicklungen mit großer Sorge.

Meine Brüder sind jetzt 12 Jahre alt und haben seit 2015 keine Schule mehr besucht, eigentlich kennen sie kein normales Leben als Schulkind. Lebensmittelgeschäfte gibt es schon seit Jahren nur wenige, weil es schwierig ist Waren aus der Türkei nach Idlib zu bringen.  Der Krieg hat sich 2019 verschärft und hat jeden Tag Tod und Zerstörung gebracht. Die Region Idlib war immer in den Nachrichten, ich habe gesehen, wie meine geliebte Heimat ein Ort des Schreckens wurde. Meine Familie musste mehr als zehn mal ihr Zuhause wechseln um dem Krieg zu entkommen. Manchmal mussten sie unter einem Baum schlafen, mal unter einem Zelt, mal im Freien. Meine Familie ist jetzt in der Nähe der türkischen Grenze. Sie wollen nur Frieden und warten dort bis sie in ihre Heimat zurück kehren können.

Durch die Militäroffensive ab 2019 erlebt die Provinz Idlib eine neue Stufe der Zerstörung.

 

Es ist extrem schwierig für mich aber ich kann nicht aufgeben, ich muss weiter machen. Ich möchte ihnen helfen und ihren Traum weiter leben.

Neue Flüchtlingsströme sind die Folge unfassbarer Gewalt.

Wie schätzt du die Zukunft ein?

Der Präsident von Syrien gegen den sich das Volk erhoben hat, will an der Macht bleiben und hat kein Problem damit alle Mittel dafür einzusetzen, so denke ich. Der Konflikt um Öl, um einen kurdischen Staat, um die Allianzen zu anderen Ländern in der arabischen Welt – sie alle werden irgendwie weiter gehen. Jede Konfliktpartei nutzt den Streit für seine eigenen Interessen aus. Vielleicht gibt es eine Zeit mit weniger Krieg, wenn die Präsidenten von Russland, Türkei, USA, Iran und andere miteinander reden. Ich weiß es nicht, aber ich denke, dass viele Probleme nicht wirklich gelöst werden können.

Und mein Vater? Er hat mit niemandem ein Problem, sein größter Traum ist es in Liebe und Frieden mit seiner Familie zu leben. Wir und viele Familien wie meine, sind die Verlierer.

Und am Ende habe ich gelernt: was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Und: ich habe einen Ort gefunden, der mich als Mensch respektiert. Eines Tages werde ich eine Ausbildung in Österreich machen können und sozial arbeiten. Ich werde anderen Menschen helfen können und meinen Traum und den Traum meiner ganzen Familie leben.

Ich bin…

… Ahmad, geboren 1992 in Kafranbel in der Provinz Idlib, Syrien.

Ich lebe…

…seit 2015 in Österreich in der Steiermark und arbeite seit Herbst 2018 in der Auto-Produktion.

Ich vermisse besonders…

…mit meinen Freunden zusammen zu sitzen, mit meinen kleinen Brüdern Fussball zu spielen und Maqali (gebratenes Gemüse) von meiner Mama zu essen.

Ich habe schon gearbeitet als…

…Rosen-Pfleger, Kinder-Animateur, Behinderten-Betreuer und Küchenhelfer.

Mein Zukunftstraum ist es…

…eine Ausbildung abzuschließen und als Sozialarbeiter anderen Menschen helfen zu können.

Das Leben…

… hat viele Herausforderungen aber wenn man will, kann man vieles schaffen. Schritt für Schritt.

Ein Foto aus früheren Tagen (2014): Teenager sehen bereits mit Sorge in die Zukunft. Sie können dennoch nicht erahnen, was das Leben für sie bereit hält.

Das Gespräch mit Ahmad führte Claudia Schober, März 2020

Fotos: alle privat