3. Juli 2019: 13. Lebensmarsch zum Todesmarschmahnmal am Präbichl. Der umtriebige Vizebürgermeister a. D. und Freund Gerhard Niederhofer gehört mit Fug und Recht zu den engagiertesten Profis mit Herz für eine neue Erinnerungs- und Gedenkkultur in der Steiermark. Seit dem 18. Oktober 2000, als der Eisenerzer Gemeinderat einen einstimmigen Beschluss zur Errichtung eines Mahnmales für die über 200 ermordeten Jüdinnen und Juden beim Todesmarsch Eisenstraße am 7. April 1945 fasste, betreut Gerhard mit der Eisenerzer Stadtregierung und in Kooperation mit allen Eisenerzer Schulen sowie mit dem Stadtmuseum sämtliche Etappen des Erinnerungsprojektes. Über 150 Jugendliche aus sieben Schulen nahmen am diesjährigen Lebensmarsch von der Schiarena zum Mahnmal auf der Passhöhe des Präbichls teil. Bürgermeisterin Christine Holzweber dankte den zahlreich erschienenen Gästen herzlich.
Konsens schaffen: ein goldener Weg in der Erinnerungskultur
Zunächst galt es jedoch im Jahr 2000 gemeinsam mit den beiden Bürgermeistern a. D. Hermann Auernigg und Mag. Gerhard Freiinger einen breiten Konsens bei den Eisenerzer Bürgerinnen und Bürgern zu schaffen. Dies gelang einerseits durch die Einrichtung eines überparteilichen intergenerativen Personenkomitees, welches unsere ARGE Jugend von Beginn an bis zum Jahr 2004 moderieren und mit fachlicher Expertise begleiten durfte. Andererseits schaffte die Einstimmigkeit im Gemeinderat wie auch die Form der Umsetzung des Gedenkvorhabens Akzeptanz bei der Bevölkerung der Eisenstraße: nämlich als Gestaltungswettbewerb, bei dem sich die Jugend aller Eisenerzer Schulen mit Entwürfen einbrachte und originelle Exponate und Skizzen anfertigte. Zu erwähnen ist freilich auch die wohlwollende und ausführliche Begleitung des Gedenkprojektes vom Jahr 2000 bis heute durch die obersteirischen Regionalmedien, die dem Vorhaben viel Platz einräumten. Am 17. Juni 2004 – also vor mittlerweile 15 Jahren – setzte die Stadtgemeinde Eisenerz mit der Firma BTE Eisenerz das Mahnmal auf der Passhöhe des Präbichls um. Die beiden fallenden Metallfiguren – Symbole für die im Kugelhagel zusammenbrechenden Jüdinnen und Juden – vor den mit Gestein vom Erzberg gefüllten Metallkörben gründen auf dem Entwurf von 14-jährigen Schülerinnen und Schülern der damaligen Hauptschule I in Eisenerz unter der Koordination des engagierten Armin Paar, der heute selbst als Lehrer mit seinen SchülerInnen immer wieder das Mahnmal am Präbichl besucht.
Weitere Schritte der Entwicklung zur modularen Erinnerungskultur
Im Jahr 2006 folgte die Errichtung eines Gedenkbuches, bei dem sich mit Stand Juli 2019 rund 2.000 Personen aus über 40 Staaten mit berührenden Einträgen verewigt haben. Die meisten Kommentare des Gedenkbuches würdigen die von der Jugend und von der Zivilgesellschaft getragene Gedenkinitiative.
Das Erinnerungsprojekt „Todesmarsch Eisenstraße 1945“ hat sich in den mittlerweile 19 Jahren seit dem zukunftsweisenden Gemeinderatsbeschluss aus dem Jahr 2000 zu einem modularen und lebendigen Patchwork einer neuen Kultur des Erinnerns und Gedenkens entwickelt, welches längst eine bundes- und europaweite Strahlkraft entwickelt hat. Eine Fülle an Aktivitäten zur schrittweisen Abrundung des Erinnerungsprojektes seien exemplarisch aufgezählt:
- Verankerung des Todesmarsches im Curriculum der Eisenerzer Schulen
- Erneuerung der Wegweiser und der Beschilderungen zum Mahnmal am Präbichl wie auch zum Judenfriedhof am Leopoldsteiner See
- Beleuchtung des Mahnmals mit Fotovoltaik-Stromquelle
- Jährlicher Lebensmarsch zum Todesmarschmahnmal mit Schulen aus Eisenerz bzw. der Eisenstraße
- Jährliche Kranzniederlegung der Eisenerzer Bürgermeisterin Christine Holzweber mit Mitgliedern der Eisenerzer Stadtregierung und des Gemeinderates sowie der ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus rund um den 1. November
- Kontinuierlich durchgeführte Schulprojekte zum Thema „Todesmarsch“ an allen Eisenerzer Schulen
- Herausgabe der zwei Fachbücher „Todesmarsch Eisenstraße 1945“ und „Die Eisenstraße 1945“, beide erschienen im Grazer CLIO-Verlag (beide leider vergriffen!)
- Herausgabe von zwei DVD-Produktionen, welche die erfreulich positive Resonanz der Bevölkerung auf das Mahnmal zwischen Bruck an der Mur und Großraming in Form von Videointerviews mit den BürgerInnen erhoben hat
- Regelmäßige Präsenz der Gedenkaktivitäten in den Regionalmedien
- Einrichtung eines Schauraumes zum Erinnerungsprojekt im Eisenerzer Stadtmuseum
Workshop „Handlungsspielräume“ als Auftakt zum Lebensmarsch
Gemeinsam mit Gerhard Niederhofer wagten wir – Christoph Hochmüller, Christina Ehetreiber und Christian Ehetreiber – heuer eine Innovation, die wir sicher weiterführen werden: Bereits am 2. Juli 2019 veranstalteten wir diesmal als Auftakt zum Eisenerzer Lebensmarsch einen Workshop mit SchülerInnen und LehrerInnen der BHAK Eisenerz, dem BORG Kindberg und mit der HLW Weyer im Eisenerzer Hof. Ausgehend vom Thema „Zwischen Zivilcourage und brutaler Gewalt. Graustufen des menschlichen Handelns unter Zwangsbedingungen am Beispiel des Todesmarsches der ungarischen Juden vom April 1945“ hefteten wir uns mit den Jugendlichen auf die zeitgeschichtliche Spurensuche nach Rollen und Handlungsspielräumen der verschiedenen Akteure des Jahres 1945. Dank einer mittlerweile ausreichenden zeitgeschichtlichen Forschungslage wie auch des dokumentierten narrativen Wissens zahlreicher ZeitzeugInnen gewannen wir über die Jahre hinweg ein facettenreiches und differenziertes Bild von Struktur, Kontext, und gesellschaftlichen Prozessen, in welchem sich der Massenmord am Präbichl wie auch in über 150 weiteren Gemeinden in ganz Österreich zugetragen hat.
Differenzierte Grauschattierungen statt Schwarz-Weiß beim Alltagshandeln
Gänzlich anders als von der sogenannten Landsergeneration gebetsmühlenartig suggeriert, bestanden nicht nur die zwei Optionen „Mitmachen und Affirmation von Gewalt und Mord an den Jüdinnen und Juden“ oder Inkaufnahme drakonischer Strafen, wenn man sich oppositionell dazu verhielt. Nein, es finden sich in den Quellen zahlreiche Hinweis für ein „Handeln innerhalb von Graustufen und Schattierungen zwischen den beiden Polaritäten „Massenmord versus Zivilcourage“. Die überlebenden Jüdinnen und Juden berichten übereinstimmend von unmenschlichsten Gewalt- und Tötungshandlungen. Sie erzählen aber auch detailreich von berührenden Hilfeleistungen seitens der Zivilbevölkerung, vor allem in Form der Gabe von Nahrung, Wasser und Gegenständen des alltäglichen Gebrauches. Der Frohnleitner Volkssturm etwa verweigerte den Erschießungsbefehl gegenüber marschunfähigen Jüdinnen und Juden, ebenso verweigerten auch einzelne Volkssturmmänner das Tragen von Waffen oder die Erschießung von Marschunfähigen. Die Familie Maunz bei Landl in Hieflau verpflegte unter Todesdrohungen Hunderte Jüdinnen und Juden auf ihrer landwirtschaftlichen Fläche. Die Familie Juvanschitz quartierte entflohene Jüdinnen und Juden in ihrem Haus ein, was bei Aufdeckung durch die Nazis tödlich geendet hätte. Nicht zuletzt beendete der befehlshabende SS-Offizier den vom Kommandanten des Eisenerzer Volkssturmes, Ludwig Krenn, angezettelten Massenmord an über 200 ungarischen Jüdinnen und Juden. Kurzum: Wir begegnen einem sehr differenzierten und nuancenreichen Bild vom menschlichen Handeln in Extremsituationen, welches zahlreiche Anknüpfungspunkte und Charakterzüge von role models für die Entwicklung von Zivilcourage und für Widerstandswissen gegen repressive Zwangssysteme bereitstellt. Die Jugendlichen erkannten an den zeitgeschichtlichen Beispielen sehr schnell das unheilvolle Zusammenwirken verschiedener Einflussfaktoren, die zum Massenmord führten: die manipulative, totalitäre Propaganda; die brutal zelebrierten Einschüchterungen und Todesdrohungen; die systematische Dehumanisierung von Menschen als Ratten und Ungeziefer; die Belohnungen von inhumanem Handeln im Dienste des NS-Systems; das mangelnde Bescheidwissen über die inneren Prozesse des NS-Terrorregimes; der Gruppen- und Konformitätsdruck bei der Mitwirkung an Unrechtshandlungen oder beim inaktiven Wegschauen, wenn Unrecht geschah; eine zumeist opportunistische, anpasslerische Identifikation mit dem Mainstream im NS-Staat in Verknüpfung mit persönlichen Vorteilen beim systemkonformen Mitmachen; das oftmals völlige Fehlen einer gefestigten, wertebasierten Gewissensstärke, die sich in Haltungen für die Mitmenschlichkeit offenbaren müsste, wie diese bei den Familien Maunz und Juvanschitz offenkundig vorhanden war.
Zusammenhänge zwischen repressivem System und Handlungsspielräumen erkennen!
Diese intervenierenden Variablen zwischen „systemischen Repressionsbedingungen im NS-Staat“ im Konnex mit den individuellen und kollektiv rekonstruierbaren Handlungsspielräumen arbeiteten die Jugendlichen erstaunlich kompetent heraus. Einige konnten die Verstrickungen zwischen den Befehlen und Zwängen des NS-Regimes und den Handlungsspielräumen in den jeweiligen Rollen in eigenen Worten darlegen und weiterführende Überlegungen anstellen. Den meisten Jugendlichen dürfte klar geworden sein, dass die gebetsmühlenartig beschworene Lehre aus der Geschichte nur möglich wird, wenn wir das Konzept der Handlungsspielräume in den jeweiligen Rollen verstehen können und nutzen lernen.
Ohne akribische zeitgeschichtliche Forschung und deren Vermittlung ließe sich die Reflexion des menschlichen Handelns unter Zwangsbedingungen nicht durchführen. Der Historiker Gerald Lamprecht referierte dazu einen kompakten Überblick über den Antisemitismus in Österreich, um den Kontext des Massenmordes entlang der Eisenstraße aufzuspannen. Die Gedenkaktivisten und Lehrer Wini Hofer und Robert Gradauer brachten den Einsatz von literarischen bzw. theaterpädagogischen und von musikalischen Annäherungen an das Thema „Todesmarsch“ und einer „Erinnerungskultur auf Seiten der Opfer“ ein.
7 Partnerschulen wanderte beim Lebensmarsch mit
Wir freuen uns sehr, dass wir beim Workshop im Eisenerzer Hof unsere Partnerschulen begrüßen durften: die HLW Weyer mit Dr. Adi Brunnthaler und Mag. Robert Gradauer, das BORG Kindberg mit den Kolleginnen Mag. Melanie Schirnhofer und Mag. Laura Ropin sowie die BHAK Eisenerz mit Mag. Wolfgang Perndorfer. Der Verein Frikulum hat in Zusammenarbeit mit der HLW Weyer vor wenigen Wochen in Kastenbreith bei Weyer eine Gedenktafel für die Opfer des Todesmarsches enthüllt. Beim Lebensmarsch zum Todesmarschmahnmal nahmen weiters die NMS Eisenerz, die PTS Eisenerz, das BORG Eisenerz und das BG/BRG Leoben neu teil, sodass beim 13. Lebensmarsch rund 150 Personen mitgewandert sind. Die Eisenerzer Bürgermeisterin Christine Holzweber, VBGM a.D. Gerhard Niederhofer, die Pädagogin Andrea Woltran und ARGE-GF Christian Ehetreiber referierten verschiedene Aspekte des Eisenerzer Erinnerungsprojektes. Wir danken allen AktivistInnen und Gästen, die am 13. Lebensmarsch mitgewirkt haben. Glück auf! Euer Christian Ehetreiber
Links
Link zu ARGE Jugend Facebook Posting
Link zur ORF Reportage zum Todesmarschmahnmal 2015
Link zur Enthüllung der Gedenktafel in Kastenreith bei Weyer des Vereins Frikulum