Der Staatsvertrag – Eine österreichische Besonderheit zwischen Fakt und Fiktion

„Österreich ist frei“. Mit diesen Worten gab Leopold Figl am 15. Mai 1955 die Unterzeichnung des Staatsvertrages bekannt. Das Bild des Außenministers, der einer jubelnden Menge eine große Urkunde entgegenhält, hat sich wie kaum ein anderes in das kollektive Gedächtnis Österreichs eingeprägt. Für viele war die Unterzeichnung des Staatsvertrags der eigentliche Startschuss für die Erfolgsgeschichte Zweite Republik. Wie es bei Geschehnissen von großer historischer Bedeutung üblich ist, bildeten sich auch um den langen Weg zur österreichischen „Freiheit“ viele Mythen. Ein Blick auf die Fakten zeigt, dass einiges was als Allgemeinwissen gilt, einer historischen Überprüfung nicht standhält. Wir möchten den Jahrestag daher nutzen, um einige informative Klarstellungen zu treffen. Dabei geht es nicht um eine gering schätzende Dekonstruktion des Mythos Staatsvertrag. Denn bei allem Kitsch und allen Verklärungen ist es doch eine Tatsache, dass gerade dieses Ereignis zentral für die Entwicklung einer österreichischen Identität war. Diese stand zum damaligen Zeitpunkt anders als heute noch auf wackeligen Beinen. In diesem Sinne spiegeln viele Mythen und Fakten rund um den Staatsvertrag typisch heimische Eigenheiten wider.

Schon der Begriff Staatsvertrag ist eine Besonderheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mit den Verbündeten des Deutschen Reichs üblicherweise Friedensverträge geschlossen. Der Begriff Friedensvertrag war jedoch für die österreichische Politik nicht annehmbar. Er hätte nämlich suggeriert, dass Österreich Mitschuld am Zweiten Weltkrieg traf. Für den gerade entstehenden österreichischen Opfermythos war der Begriff Staatsvertrag daher passender. Bezeichnend für die Bedeutung der identitätsstiftenden Leugnung der Mitschuld an NS-Verbrechen ist die Tatsache, dass die österreichische Regierung noch im Jahr 1947 um einen Friedensvertrag angesucht hat. Erst im Laufe der nächsten Jahre setzte sich die Diktion Staatsvertrag durch. Wie stark diese letztlich das historische Bewusstsein prägte, zeigte eine Umfrage aus dem Jahr 1995. Auf die Frage „Seit wann gibt es ein freies Österreich?“ nannten 87 Prozent das Jahr 1955. Das Österreich schon 1945 vom Nationalsozialismus befreit wurde, war für die wenigsten Befragten von Bedeutung. Was die österreichische Identität betrifft, kann das Jahr 1955 tatsächlich als Wendepunkt gesehen werden. In Umfragen erklärten erstmals 49 Prozent, dass sie sich als Österreicher fühlen und nicht als Angehörige des deutschen Volkes. In den nächsten Jahrzehnten stieg das Bekenntnis zu Österreich kontinuierlich.
Dazu trug mit Sicherheit auch der berühmte Ausspruch „Österreich ist frei“. Das kollektive Gedächtnis „weiß“, dass Figl diesen auf dem Balkon des Schloss Belvedere getätigt hat. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass damals keine Mikrophone vor dem Außenminister standen. Der berühmte Satz ist nämlich nicht auf dem Balkon, sondern im Marmorsaal des Schloss Belvedere gefallen. In der Wochenschau, damals das wichtigste multimediale Informationsmedium des Landes, wurden Aufnahmen von Figl am Balkon mit seinen Worten im Inneren von Belvedere unterlegt. Etwas weniger ikonisch aber durchaus berühmt ist das Gemälde, das die feierliche Unterzeichnung des Staatsvertrags zeigt. Auf diesem sind fast 100 Personen zu sehen. Es ist historisch gesichert, dass sich deutlich weniger Personen im Raum befanden. Der beauftragte Maler wollte aber eine imposantere Kulisse zeigen. Angeblich wurden auch viele bedeutende Persönlichkeiten des Wiener Gesellschaftslebens gegen Bezahlung in das Bild gemalt.

Ein weiterer Mythos um den Staatsvertrag betrifft die österreichische Neutralität, die ihrerseits ein Mythos ist. Entgegen der allgemein verbreiteten Annahme war die Neutralität kein Bestandteil des Staatsvertrags. Jedoch ist sie eine Grundvoraussetzung für dessen Zustandekommen gewesen. In letzter Minute lenkten auch die sozialdemokratischen Verhandler ein und akzeptierten die Neutralität. Vor allem Bruno Kreisky leistete dabei die entscheidende Überzeugungsarbeit. Glaubt man dem Volksmund, war die österreichische Trinkfestigkeit für die Erlangung des Staatsvertrags mindestens genauso wichtig. Die Legende besagt, dass die sowjetischen Verhandlungspartner von Figl regelrecht unter den Tisch getrunken wurden und dem Staatsvertrag schließlich zustimmten. Belegt sind diese Geschehnisse allerdings nicht.

Letztlich ist der Staatsvertrag ein Paradebeispiel für die Vermischung von historisch gesicherter Wahrheit und Fiktion. Für die österreichische Identität spielt es mittlerweile keine Rolle mehr was im Detail geschah. Der Ärger den einige Historiker aufgrund der Ungenauigkeiten in der Überlieferung verspüren, wiegt die nationale Glückseligkeit, die sich im Zusammenhang mit dem Staatsvertrag regelmäßig ausbreitet nicht auf. Grundsätzlich gibt es ja mehr als genug Punkte, über die sich sowohl Mythos als auch Logos einig sind. Der Staatsvertrag war ein wichtiger Meilenstein auf dem Erfolgsweg der Zweiten Republik und trug dazu bei, dass jenes Österreich, das wir heute kennen, Gestalt annahm. In diesem Sinne ist der 15. Mai zwar kein Feiertag, aber durchaus ein Freudentag.

 

 

Martin Amschl