Rezension von Hans Putzers Essay „Selbstverliebtes Österreich“
Skepsis gegenüber Narrativen
1918 bis 2018: 100 Jahre Republik Österreich. Der allenthalben zelebrierten Feierlaune fährt Hans Putzer in seinem Auftragstext für die Wanderausstellung „Im Zeitalter der Extreme“ tüchtig in die Parade. Unter dem provokanten Titel „Selbstverliebtes Österreich“ widmet er sich mit kritischem Blick den widersprüchlichen und paradoxen Narrativen zu österreichischen Identitätskonstruktionen und Mythologisierungen, die mitunter bis heute (oft unheilvolle) Wirkmacht entfalten. Der nuancenreiche Streifzug durch die hundertjährige Selbstfindung Österreichs als Demokratie dekonstruiert manch´ selbstgefällige Geschichtsklitterung, wohlfeile Selbstdarstellung und Moralisierung des Politischen. Die Dekonstruktion des „selbstverliebten Österreichs“ erfolgt in vier Kapiteln zu den 8er-Jahren: 1918, 1938, 1948 und 2018. Das Schlusskapitel liefert „Zehn Anregungen für eine bessere Zukunft“.
Antisemitismus als parteiübergreifender Rassismus
Im Zeitalter eines meist völlig unterschätzten links-rechten Antisemitismus, Antizionismus und Antiamerikanismus dürfen wir auf Hans Putzers faktenreiches Kapitel über den Antisemitismus ganz besonders hinweisen und zur aufmerksamen Lektüre raten. Hans Putzer: „Judenfeindlichkeit gehört zur europäischen Geschichte wie ein scheinbar unheilbares Krebsgeschwür. Die verschwindend geringe Zahl wohlhabender Juden wurde durch die Jahrhunderte hinweg zwar ökonomisch gebraucht, doch dafür kaum geschätzt, das jüdische Proletariat blieb als Projektionsfläche xenophober und/oder religiöser Paranoia in ständiger Gefahr. Von Martin Luther über Karl Marx und Richard Wagner bis zu Karl Lueger spannt sich ein Bogen antisemitischer und zugleich öffentlich höchst wirkmächtiger Persönlichkeiten. Und diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen.“
Grelle Kritik taucht Erfolge ins Halbdunkel
Hans Putzers Text kredenzt der selbstgefälligen Geburtstagsgilde zum hundertjährigen Republiksjubiläum den sprichwörtlichen starken Tobak. Er rüttelt an etablierten Konsensen der Geschichtsbetrachtung, meidet keine Frontalattacke auf vermeintlich eherne Narrative der Ersten und Zweiten Republik und wird mit seinem Text garantiert heftigsten Widerspruch und Furor aus unterschiedlichen ideologischen Positionen ernten. Das ist gut so und vom Autor sicher erwünscht. Doch wie immer bei wortmächtig vorgetragener, bisweilen überzogener Kritik gerät die Würdigung des Gelungenen zu kurz. Die unbestreitbare Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik lässt sich freilich mit noch so wortmächtiger Argumentation zum Glück nicht vom Tisch wischen oder madig machen. Diese darf vor allem im Vergleich mit dem Desaster der Ersten Republik, der Kanzlerdiktatur und der NS-Herrschaft von 1938 bis 1945 gebührend und mit berechtigtem Stolz zelebriert werden, ohne freilich die von Hans Putzer eloquent vorgetragene Einrede ignorieren zu dürfen.
Von Einheilsvisionen über Allheilsdogmatik zum Unheil
Was waschechte Demokraten, deren ideologisches Banner von Freiheit, Rechtsstaat und von Meinungsvielfalt imprägniert ist, von Hans Putzers Text jedenfalls lernen können, ist die notwendige Skepsis gegenüber verschiedenen Varianten von „Großen Erzählungen“ (Lyotard). Ob „für Volk, Kaiser und Vaterland“, „ein Volk, ein Reich ein Führer“ oder für eine „Diktatur des Proletariats“: All diese „Großen Erzählungen“ führen von Einheilsvisionen, die über Propaganda zur Allheilsdogmatik verklärt werden zur Produktion millionenfachen Unheils. Das antisemitische Narrativ, aus ganz verschiedenen ideologischen Quellen und vom rabiaten Sozialneid gespeist, zeigt bis heute, wie menschenfeindliche Diskurse sich über Jahrhunderte hinweg im Mainstream behaupten können. Hans Putzer zeigt nuancenreich und verdienstvoll, wie sich dieser Reproduktionsprozess des Judenhasses konkret vollzieht.
Die sorgfältige und differenzierte Recherche sowie der pointiert-kantige Stil der Argumentation, die zum Widerspruch nicht nur einlädt, sondern diesen nachgerade einfordert, machen Hans Putzers Text zum Lesevergnügen für all jene, die im ungeschminkten Austausch von Argument und Gegenargument einen Wesenszug von Demokratie und Wissenschaft erkennen. Christian Ehetreiber
„Im Zeitalter der Extreme. 1918 … 2018. Eine Publikationsreihe der ARGE Jugend auf Social Media.
Teil 2: Hans Putzer: Selbstverliebtes Österreich. Ressentiments, Narrative und Paradoxien.
Bild-US zum Eisenerzer Mahnmal: “Alljährlich organisiert VBGM a.D. den Lebensmarsch zum Todesmarschmahnmal am Präbichl, an dem Eisenerzer Jugendliche teilnehme.”
Foto: Christian Ehetreiber