Von widernatürlicher Unzucht zu Vielfalt und Gleichstellung

Die Homosexuellenbewegung als farbenfroh-schillerndes Beispiel für die Effektivität aktiver Bürger/innenbeteiligung . Eine Reflexion zum 17. Mai, dem internationalen Tag gegen Homophobie.

17. Mai 1992: vor den Vereinslokalen zahlloser Homosexuelleninitiativen werden voller Stolz und Freude Regenbogenfahnen gehisst. Dieser Tag schreibt Geschichte und muss gefeiert werden: die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat beschlossen, Homosexualität aus ihrem Diagnosekatalog für  Krankheiten – der International Classification of Diseases (ICD) – als psychische Erkrankung zu streichen! Ein Meilenstein in der wechselvollen und vielfach grausamen Geschichte der Homosexuellenbewegung. Einer von vielen Meilensteinen.

Von Sünde über Krankheit zu Menschenrecht

 

Die gleichgeschlechtliche Liebe und Sexualität – in der griechischen Antike noch als alltägliches „Vergnügen neben der Ehe“ zum guten Ton gehörend, sollte fortan die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte verurteilt, verfolgt und bestraft werden. Vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit wurde „widernatürliche Unzucht zwischen Männern“ – vor allem geprägt durch religiöse Einflüsse – als Sünde betrachtet und mit Folterstrafen bedacht. 1886 definierte der deutsch-österreichischer Psychiater Richard von Krafft-Ebing in seinem Standradwerk Psychopathia Sexualis Homosexualität als „angeborene neuropsychopathische Störung“ und führte die Liebens- und Lebensform damit vom Sündenpool in die Ecke der Krankheiten. Homosexualität als Anomalie – ein Stempel, der lange auf der rund 5-10 % der Weltbevölkerung umfassenden Minderheit lasten sollte. Im Nationalsozialismus wurden Homosexuelle wie viele andere Minderheiten und Andersdenkende verfolgt, von rund 10.000 bis 15.000 in Konzentrationslager verbrachte Homosexuelle kamen etwa 50 % ums Leben.

Vom Totalverbot der Homosexualität zu Eheöffnung und Familiengründungsrechten

 

Bei uns in Österreich galt neben sozialer Verachtung und Ausgrenzung lange ein rechtliches Totalverbot für Homosexualität. Von 1852 – 1971 wurde “Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts” strafgesetzlich mit schwerem Kerker bis zu 5 Jahren bestraft. Erst die sogenannte „kleine Strafrechtsreform“ reduzierte das Totalverbot gleichgeschlechtlicher Liebe auf einige „Sonderstrafgesetze“. Unter diesen befand sich auch der umstrittene § 209 Strafgesetzbuch, der „gleichgeschlechtliche Unzucht mit Personen unter 18 Jahren“ unter Strafe stellte. Diese Rechtsnorm, die bis ins Jahr 2002 Bestand hatte, bedrohte Liebschaften junger Menschen von etwa 19 und 17 Jahren mit Haft und konnte nach unermüdlichen Kämpfen der Homosexuellenbewegung bis in die höchste Instanz schließlich durch ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs aus dem österreichischen Strafrecht verbannt werden. Dabei scheint jene Gesetzeslandschaft, die über Jahrzehnte das österreichische Rechtssystem durchzogen hat, ja regelrecht rosig anzumuten, unterzieht man sie nur grob einem weltweiten Vergleich zum Umgang mit sexuellen Minderheiten. So ist Homosexualität heute in 74 der 193 UN-Mitgliedstaaten mit Freiheits- und Geldstrafen bedroht und wird in 10 Ländern der Welt die Todesstrafe praktiziert. Mehr noch: manche Länder verschärfen ihre Strafen (Russland) oder  diskutieren gegenwärtig die Wiedereinführung der Todesstrafe auf gleichgeschlechtliche Handlungen (Uganda).

Große Umbrüche als Folge kontinuierlichen Engagements einer breiten Bürgerbewegung

 

Vor diesem historischen, gesellschaftlichen und international rechtspolitischen Hintergrund um das Lieben und Leben von Männer- und Frauenpaaren, der über Jahrhunderte mit den Schlagworten „Sünde“, „Widernatürlichkeit“ „Krankheit“ und „Strafe“ vergiftet wurde und vor Diskriminierung und Gewalt nur so strotzt, erscheinen die jüngsten Entwicklungen seit dem 17.Mai 1992 wie ein Märchen kühnster Fantasie: zunächst wurde Homosexualität aus dem Katalog psychischer Erkrankungen gelöscht, sodann folgten weltweit zahlreiche Umbrüche auf sozialer Ebene und rechtlicher Ebene. Umbrüche mit dem Ergebnis, dass es heute kaum noch jemanden überrascht, in der Zeitung von der Hochzeit eines Schauspielers mit seinem Lebensgefährten zu lesen, Wahlsiege einer lesbischen Politikerin zu erleben oder eine Schulkollegin kennenzulernen, die zwei Mütter hat. Letzteres mag hierzulande noch ein recht neues Phänomen darstellen, dennoch ist Realität: seit 2010 gibt es in Österreich die Eingetragene Partnerschaft – ein eheähnliches Lebensmodell – für gleichgeschlechtliche Paare, ab 01.01.2019 wird die Ehe für alle geöffnet sein. Auch sämtliche Familiengründungsrechte – wie künstliche Befruchtung, Adoption und Pflegeelternschaft – stehen Homosexuellen offen. Europaweit betrachtet, erfahren Homosexuelle in 18 Staaten volle Gleichstellung im Ehe- und Familienrecht, in den USA sogar in sämtlichen 52 Bundesstaaten. Dabei werden es stetig mehr Staaten der Erde, die entkriminalisieren und gleichstellen.

Diese Umbrüche von widernatürlicher Unzucht zu Vielfalt und Gleichstellung sind nichts geringerem zu verdanken als aktiver Bürger/innenbeteiligung auf breiter Ebene: Demonstrationen, Gay Pride-Paraden, Kampagnen, Unterschriftensammeln, die Gründung schwul-lesbischer Vereine und Interessenvertretungen, das Publizieren von Zeitschriften, Aufklärungsarbeit und Wissensvermittlung sowie nicht zuletzt Marketing und Öffentlichkeitsarbeit durch Kultivierung eines „gay lifestyle“ von schillernden Mode- und Kunstfiguren bis hin zu homosexuellen Männern und Frauen in hochrangigen öffentlichen Ämtern, Gesellschafts- und Familienleben. Ein Märchen über das Entfliehen einer Minderheit aus düsteren Epochen in ein modernes schönes Zeitalter? Nein. Ein farbenfroh-schillerndes Beispiel für die Effektivität aktiver Bürger/innenbeteiligung!

Martina Weixler