Mindestsicherung: Den Brotkorb höher hängen?

Arbeitslose: Man redet immer über sie, nicht mit ihnen!

Sozialpolitische Debatten in Österreich zeichnen sich dadurch aus, dass naturgemäß über die Betroffenen, jedoch kaum mit ihnen gesprochen wird. Die sogenannten „kleinen Leute“ kommen dann als „die Billa-Verkäuferin vor, die kaum mehr verdient als ein Mindestsicherungsbezieher“[1]; als „vierköpfige Familie, die 2.500,– an Transfereinkommen bezieht, was mitunter nicht einmal eine Arbeiterfamilie verdiene“; als „Asylwerber, die ins österreichische Sozialsystem einwandern“; oder als „Arbeitsunwillige, die von Mindestsicherung und Schwarzarbeit in Saus und Braus leben.“ Klar, dass jeder Scharfmacher gegen den Sozialstaat gleich mehrere solche Einzelfälle persönlich kennt, die dann zu einem gefährlichen gesellschaftlichen Trend dramatisiert werden. Seit Jahrzehnten hält dieser Empörungsdiskurs her für die Generierung eines ganzen Arsenals an Kampfbegriffen gegen den Sozialstaat: Soziale Hängematte, Komfortzonenmentalität, Sozialindustrie , Sozialschmarotzer, arbeitsunwillige Abzocker, Handaufhalter und Sandlerkönige. Der Kreativität der Sozialstaatsfeinde und Sozialstaatsvernaderer sind in der Kunst des Wordings keine Grenzen gesetzt.

837,– im Monat: Experten baden leider nie aus, was sie anderen zumuten!

Beim ORF-Sendeformat „Im Zentrum“ verhielt es sich nicht anders. Über die zentrale Frage „Wieviel Mindestsicherung ist angemessen?“, diskutierte am 7.2.2016 eine illustre Runde aus Politik und Wissenschaft. In den Worten Peter Handkes sei erinnert: „In Sendeformaten steckt Obrigkeit!“ Die von Frau Thurnher wie gewohnt nur vermeintlich moderierte Runde bestand aus Persönlichkeiten, die allesamt über 100.000,– jährlich verdienen, also ein zumindest Zehnfaches von Mindestsicherungsbeziehern, was freilich legal und legitim ist. Das Befremdliche in der Argumentation vieler Gutverdienender besteht jedoch darin, dass sie den Beziehern von Mindestsicherung nicht einmal den Bruchteil ihres eigenen stattlichen Einkommens vergönnen. Die Scharfmacher für Kürzungen bei Sozialleistungen aus Politik, Medien, Wirtschaft, Banken und Sozialpartnerschaft verkleschen bei manchen Empfängen, Pressefahrten, Dienstreisen oder Firmenfeiern an wenigen Tagen mehr Geld, als den Beziehern von Mindestsicherung pro Monat zum Leben zur Verfügung steht. Reinhard Mey brachte das skizzierte Sittenbild bereits in den 1970er Jahren trefflich auf den Punkt: „Was kann schöner sein auf Erden, als Politiker zu werden. Vom Überfluss der Diäten, platzen dir die Taschen aus den Nähten.“

Reinhard Mey Was kann schöner sein auf Erden als Politiker zu werden?

Fürstliche Einkommen kein Problem! Mindestsicherung schon?

Ergänzend sei hinzugefügt, dass der Überfluss der Diäten nicht nur Politiker, sondern auch Wirtschaftsbosse, Aktienhändler, Spitzensportler, Trainer, Berater, Medientycoons, Makler, Lobbyisten, Großwildjäger, Erben und andere Höchstleister ihres Metiers betrifft. Sie alle stilisieren sich in virtuoser Selbstinszenierung freilich zu den „Leistungsträgern des Systems“, zu den „braven Steuer- und Beitragszahlern“, zu den „Tüchtigen und Anständigen“ oder zur „Melkkuh der Nation“, kurzum: zu den Guten; wohingegen die Bezieher von Mindestsicherung stets unter dem Verdacht des Schmarotzer- und Parasitentums stehen. Wir weisen an dieser Stelle parabelhaft auf jene millionenschweren und dennoch steuerhinterziehenden Sozialstaatszerstörer hin, die Herve Falciani mit den von der Schweizer HSBC-Bank abgezweigten Bankdaten enthüllt hat. Die von Falciani enthüllte Summe beläuft sich auf 75 Mrd. Euro (sic!). Das zelotische Eiferertum der Sozialstaatshetzer vermissen wir indes zumeist, wenn es um den systematischen Milliardenbetrug am Staatswesen durch Oligarchen in Steueroasen geht. Wir vermuten, dass es sich dabei in den meisten Fällen um Freunderl und Freunde in Parteiunion handelt, also um Leistungsträger, die dann schon einmal beim Finanzminister anrufen, um dort nach Erhalt von Millionenbeträgen nachzufragen: „Wos wor mei´ Leistung?“

ARD Doku über Falciani und der Bankenskandal

Das „Sozial-Zoo-Setting“ mit Streichelrhetorik

Mindestsicherungsbezieher werden in TV und Printmedien bei solchen Debatten oft im „Sozial-Zoo-Setting“ vorgeführt. Meist im Publikum sitzend, per Zuspielung oder im „Kastentext“ dürfen sie von Journalisten Gnaden ein paar Sätze von ihrem schweren Los erzählen und dafür meist rhetorische Leckerlis des gut verdienenden und fein gekleideten Diskutierklubs abholen. Doch auf Augenhöhe, also über den Sozial- Zoo- und Feigenblatt-Status hinaus, ist den Betroffenen die Diskussion zumeist verwehrt. Wäre schließlich noch schöner, wenn die „kleinen Leute“ die über sie kursierende Sakristei von Vorurteilen relativieren oder die Experten mit Widerspruch konfrontieren könnten.

62 Personen besitzen gleich viel wie 3,5 Milliarden Menschen

Worum geht es bei der Mindestsicherung im Kern? Seit Mitte der 1980er Jahre haben neoliberale Politikkonzepte in der gesamten westlichen Welt zur Installierung einer gigantischen Umverteilungsmaschinerie von unten nach oben geführt. Innerhalb fast jedes Staates wie auch zwischen den ärmsten und reichsten Staaten gilt die Formel: „Reiche werden reicher, Arme immer ärmer.“ Mittlerweile besitzen der jüngsten Oxfam-Studie zufolge 62 Personen soviel Vermögen wie die rund 3,5 Milliarden der ärmsten Personen auf unserem Erdball.

Spiegel Bericht über die Oxfam Studie

Die „neoliberale Revolte“ (Pierre Bourdieu) hat mittlerweile einen „Sozialismus der Reichen“ (Noam Chomsky) errichtet, der sozialstaatliche Politik unter Druck setzt. Neoliberale Politik diffamiert Sozialpolitik systematisch als zu rationalisierenden Kostenfaktor, als Klotz am Bein der Wirtschaft, als übersozialen Versorgungsstaat, als Hemmschuh des (vermeintlich!) freien Wirtschaftens und als Förderer von Vollkasko- und Komfortzonenmentalität.

Neoliberales Wortgeklingel als Quasi-Naturgesetze

Längst sind die in den 1960er und 1970er Jahren noch zu Recht als irrsinnige Wahnvorstellungen erkannten Glaubenssätze der Neoliberalen zum politischen Allgemeingut mutiert, haben Konservative, Liberale, ja sogar die Sozialdemokraten erfasst und benebelt. Im Kern der gesamten Debatte über die Mindestsicherung wie auch über die sozialen Sicherungssysteme geht es naturgemäß um die Verteilung von Vermögen und Wohlstand: um die politisch-ideologische sowie sozial- und moralphilosophische Rechtfertigung des Ausmaßes von Ungleichheit und offenkundiger Ungerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft und um die Frage, welches Einkommen für Erwerbsarbeit bzw. welche Höhe für soziale Transfers angemessen und fair ist. Kurzum: Es geht um die Herstellung eines demokratisch erstrittenen und mit parlamentarischen Mehrheiten vereinbarten Konsenses über die Verteilung der vorhandenen Ressourcen, über die Verteilung von qualitätsvoller, ausreichend entlohnter Erwerbsarbeit ebenso wie über soziale Sicherungssysteme mit Rechtsansprüchen, über Steuergerechtigkeit und über Zugänge für alle Menschen zu Bildung und Arbeit, über Finanzierbarkeit und Augenmaß gleichermaßen wie über die Sicherstellung, dass niemand in Sack und Asche leben muss.

Arbeit: Nur eine Frage von Moral und Motivation?

Die Scharfmacher für die Senkung der Mindestsicherung entwerfen die Arbeitslosigkeit primär als Frage der individuellen Arbeitsmotivation und der Arbeitsmoral. Sie fordern „Arbeitsanreize“, um Motivation und Moral zu erhöhen. Das führt bei einigen Personen durchaus zu positiven Wirkungen, etwa zum Wiedereinstieg in Erwerbsarbeit, kann aber freilich kein Allheilmittel sein. Mit „Arbeitsanreizen und Aktivierungsmaßnahmen für Arbeitslose“ ist in der Regel das im Volksmund trefflich bezeichnete „Höherhängen des Brotkorbes“ gemeint, also Kürzungen von Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und Mindestsicherung. Hinter dem Konzept „Überwindung von Arbeitslosigkeit durch motivierende Arbeitsanreize“ oder durch „Aktivierung von Selbsthilfepotenzial“ steckt die rührend-naive Annahme, man könne Vollbeschäftigung allein auf individueller Ebene mittels sozialem Druck und arbeitsmarktpolitischen Förderprogrammen überwinden. Wenn´s denn bloß so simpel wäre!

Tunnelblick auf Arbeitsmoral verstellt den Gesamtblick

Diese eingeschränkte Perspektive blendet die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge, die politische und wirtschaftliche Verantwortung, den wissenschaftlich-technologischen Fortschritt, der mehr Jobs vernichtet als er hervorbringt bzw. den Wertschöpfungszuwachs nicht fair verteilt und die Marktdynamik völlig aus.  Kurzum: Mit der Individualisierung, Marginalisierung und Naturalisierung von Arbeit und Arbeitslosigkeit sind die Finanzierungsprobleme der europäischen Sozialstaaten nicht zu lösen. Es braucht eine Gesamtbetrachtung, welche volkswirtschaftliche, sozialwissenschaftliche, sozial-, rechts- und moralphilosophische Aspekte berücksichtigt, die wissenschaftliche Ebene von der politisch-ideologischen Ebene trennt und einen sachlichen Diskurs über die sozialpolitische Gretchen-Frage ermöglicht: „Wie hältst du es mit der gerechten Verteilung des Vermögens?“ Die aktuellen Wortmeldungen fokussieren stets Einzelaspekte – Finanzierung, Auswirkungen auf die Arbeitsmoral, Österreicher versus Flüchtlinge, ideologische Aspekte -, und verklickern ihre Partialperspektiven als Gesamtsicht. Emotional aufgeheizte Grundsatzdebatten sind sachlichen Lösungen jedoch selten zuträglich.

Drei Stufen der sozialen Sicherung: Mindestsicherung; Mindestlohn und KV-Löhne

Wir plädieren daher seit unserer Wanderausstellung A-Sozial im Jahre 2005 für ein mehrstufiges Sozialstaatsmodell, das selbstverständlich zuallererst auf Erwerbsarbeit und auf dem ASVG gründet, darüber hinaus aber auch alle anderen Vermögen gerecht und ausreichend besteuert. Die unterste Stufe bildet eine „Grundsicherung ohne Arbeitszwang“ in der monatlichen Nettohöhe von zumindest 1.000 Euro pro Monat (12x jährlich), flankiert mit freien Zugängen in eine gut aufgestellte Landschaft an gesellschaftlich sinnvoller Tätigkeit (Angebotspalette des 2. Arbeitsmarktes!) und mit freiem Zugang zu Bildung und Qualifizierung. Die zweite Stufe ist ein branchenübergreifender Mindestlohn bei Vollzeiterwerbsarbeit von rund 1.400,– netto/Monat (14x jährlich). Die dritte Stufe ist das über dem Mindestlohn liegende, nach Branchen-KV-Löhnen ausdifferenzierte Entlohnungsschema. Sollten manche Branchen es nicht schaffen, den Mindestlohn zu bezahlen, kann zwischen den Sozialpartnern ein auf 3-5 Jahre vereinbartes Kombilohnmodell aus Mindestsicherung und marktmöglicher Bezahlung vereinbart werden, das aber weder ein unbeschränktes Lohndumping auf immerdar, noch ein bauernschlaues Abwälzen der Lohnkosten auf die öffentliche Hand sein darf. Was wir jedenfalls dringend empfehlen: Die Debatte über Arbeit, Verteilungsgerechtigkeit und soziale Sicherungssysteme ist endlich im breiten Rahmen öffentlich zu führen. Es ist eine Beleidigung des Bürgers als Souverän, diese Diskussion den rabiaten Sozialstaatsfeinden auf der einen, den blauäugigen Sozialstaatsromantikern auf der anderen Seite zu überlassen. Christian Ehetreiber

Links

Michael Häupl versus Reinhold Lopatka über das Grauen beim Thema Mindestsicherung

Die Presse berichtet über die Positionen der steirischen Parteien zur Mindestsicherung

Karin Heitzmann zur Mindestsicherung

Pro und Contra zur Deckelung der Mindestsicherung bei 1.500 Euro

SPÖ Bundes-GF Schmid fordert verstärkte Arbeitsanreize

Salzburger SPÖ will mehr Sachleistungen statt Geldleistungen bei Mindestsicherung

Die Mindestsicherung im Faktencheck

Die Mindestsicherung im Faktencheck

Die soziale Heimatpartei vulgo FPÖ will Kürzungen bei Mindestsicherung

Die Positionen der Bundesländer zur Mindestsicherung

Infos zur Mindestsicherung auf dem steirischen Sozialserver



[1] Die zuweilen zu geringe Differenz zwischen Lohn und Mindestsicherung wird dann oft dem Mindestsicherungsbezieher angekreidet statt dem Arbeitgeber. Moderatorin Thurnher brauchte bei „Im Zentrum“ am 7.2.2014 rund eine halbe Stunde, ehe sie erstmals die naheliegende Frage in die Runde warf, ob man nicht auch den Lohn anheben, anstatt die Mindestsicherung absenken müsse, um dieses heiße Thema sogleich hurtig zu verlassen.