Europa zwischen Scylla und Charybdis! Getrieben vom Gesang der Sirenen?

Teil 2: Sprung aus der Geschichte der Holzpferde und Sündenböcke

Überhöhung von Zweckrationalität: instrumentelle oder kommunikative Vernunft?

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer legten in ihrem 1944 erschienenen Epochenwerk „Dialektik der Aufklärung“ überzeugend dar, weshalb eine selbstreflexive Moderne ihr Vernunftprinzip nicht auf die Zweckrationalität einer reinen instrumentellen Vernunft errichten darf: Eine solche eindimensionale Vernunft, die unhinterfragten Zwecken nur die rationale und rationelle Zuordnung von Mitteln und Verfahren einräumt, die Zwecke selbst jedoch der vernunftgeleiteten Reflexion entzieht, stürzt das gesamte Projekt einer selbstreflexiven Aufklärung in die widerwärtige Vielfalt kollektiver Regressionen, vom Nationalismus über Rassismus bis zu Faschismus und Krieg. Die Aufklärungsphilosophie seit Immanuel Kant wähnte sich stets als die Entzauberungsinstanz des Mythos und der Metaphysik. Horkheimer und Adorno attestieren indes eine verschlungene Komplizenschaft zwischen den vermeintlichen Gegnern: Bereits der Mythos sei Aufklärung. Zugleich schlage eine auf instrumentelle Vernunft reduzierte Aufklärung unweigerlich in Mythologie zurück. Mythos und Aufklärung als zwei Seiten derselben Medaille?

 

Die Moderne im Spiegelbild der griechischen Odyssee

Diese verblüffende Hypothese belegen Horkheimer und Adorno – als hätten sie das griechische Drama 2015 vorausgeahnt – mit der vermutlich genialsten Interpretation der Odyssee des griechischen Dichters Homer. Der im doppelten Wortsinne „verschlagene Odysseus“, listenreicher Held der sich selbst und der Natur bemächtigenden instrumentellen Vernunft, will sich den mythischen Mächten entwinden, die Götter und Dämonen übertrumpfen, die Herausforderungen der Irrfahrt mit Klugheit und Kalkül bestehen. Odysseus überlistet alle Gegner, überwindet Hindernisse und Widrigkeiten mit Bauernschläue, mit Sprachwitz, mit Selbstdisziplin, mit Entbehrung, mit durchdachter Strategie und mit dosiert eingesetztem Kampf. „Der listige Einzelgänger [Odysseus] ist schon der homo oeconomicus, dem einmal alle Vernünftigen gleichen. […] Dem Zufall des Wellengangs ausgeliefert, hilflos isoliert, diktiert ihnen ihre Isoliertheit die rücksichtslose Verfolgung des atomistischen Interesses [einer von Zweckrationalität vereinnahmten Vernunft].“ (Adorno, Horkheimer, Dialektik der Aufklärung (1969), S. 69.

Europa 2015: Verharren in instrumenteller Vernunft oder Aufbruch ins Zeitalter der kommunikativen Vernunft?

Ohne Zweifel: Horkheimers und Adornos von 1939 bis 1944 verfasste Interpretation der verschlungenen und verwickelten Irrfahrt des zweifach verschlagenen Odysseus wiederholt sich im aktuellen griechischen Drama erneut: ein auf Macht- und Kapitalakkumulation allein reduziertes Europa der Geldwertstabilität und des freien Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehrs ist ebenso Ausdruck von regressiv entfesselter instrumenteller Vernunft wie das Remake der bauernschlauen Syriza-Herostraten, die auf Holzwegen – statt einst mit einem Holzpferd vor Troja – die Gunst der Geldgeber in Frankfurt, Brüssel, Paris oder Berlin zu erobern trachten. Hinzu kommt, dass Tsipras und Varoufakis sich mit Hektor, Achill oder Odysseus weder an Mut, noch an Tugendhaftigkeit oder listenreicher Tollkühnheit vergleichen können, zumal sie Schäuble und Draghi offenkundig mit dem geistig eingeschränkten Riesen Polyphemos verwechseln, bei dem Alkohol, sprachliche Taschenspielertricks und rohe Brutalität reichten, um ihn zu besiegen. Zugleich geben sich Tsipras und Varoufakis ohne Selbstfesselung, dafür mit Selbstüberschätzung, dem tödlichen Sirenengesang der uferlosen Verschuldung hin. Odysseus hatte sich dereinst an den Mast seines Schiffes fesseln lassen, um dem Sirenengesang nicht zu erliegen. Den sirenischen Irrweg erachtet die griechische Regierung zu Unrecht als vermeintlichen Königsweg zwischen der Scylla des drohenden Grexit mit Bankrott und noch mehr Massenarbeitslosigkeit einerseits sowie der Charybdis eines die Regierung verschlingenden Volkszornes der Unzufriedenen andererseits. Lösungswege scheinen freilich für alle Beteiligten schwierig zu sein, da sie allesamt im Paradigma der instrumentellen Vernunft gefangen sind: neoliberale Kalküle versus Bauernschläue; Strategie versus Pokermentalität; diplomatisches Geschick versus heroisches Pathos mit großen Ehrgefühlen; das Eigene versus das große Ganze; Auswege versus Verdichtung des hermetischen Denkens; Verstrickung oder Entrinnen?

Dialektik der Aufklärung reloaded: Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes?

Die vom römischen Dichter Vergil überlieferte Warnung des Priesters Laokoon vor den Griechen, selbst wenn diese Geschenke dabei haben, rauscht aktuell durch die Feuilletonseiten. Wie ein Blick in die angefügten Kommentare zeigt, ist die realpolitische Neuauflage der „Dialektik der Aufklärung“ auch 2015 gewürzt mit (griechischen) Ingredienzien der Mythologie: vom Pyrrhussieg über Dilemmata und Sackgassen, von Schicksalsstunden für Europa, der „Selbstopferung Varoufakis“, den “letzte Brücken, [die] eingerissen [wurden], über die Europa und Griechenland sich auf einen Kompromiss zubewegen konnten” (Siegmar Gabriel) bis zur Alternativlosigkeit des Kompromisses. Wenn das alles nicht „Dialektik der Aufklärung“ ist, was dann? Zwischen Athen und Berlin wird Remythologisierung im großen Stil aufgeführt, verkleidet mit der Rhetorik der eindimensionalen Zweckrationalität, die sich selbst als Vernunft missversteht.

Friedrich Hölderlin: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!

Europa hat in der Geschichte seines langen 19. und seines kurzen 20. Jahrhunderts weitaus dramatischere und opferreichere Herausforderungen bewältigt und mit der EU eine lange Zeit des Friedens und des zunehmenden Wohlstandes seit 1945 sichern können. Eric Hobsbaw markierte die Epochenschwellen des kurzen 20. Jahrhunderts mit den russischen Revolutionen und dem Ende des Ersten Weltkrieges 1917/18 und 1991, dem Zerfall der Sowjetunion. Die Europäischen Einigungsprozesse, die aus den Schützengräben von Verdun und den Massengräbern von Auschwitz und Gulag ein demokratisches Europa formten, erforderten jene ganz großen EuropapolitikerInnen, die das europäische Projekt immer stärker forcierten als nur die nationalen, ideologischen oder persönlichen Eigeninteressen. Mögen daher die Geldgeber und die griechische Regierung Maß nehmen bei Winston Churchill, Charles Degaulle, Konrad Adenauer, Willi Brand, Olof Palme, Bruno Kreisky, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Hans Dietrich Genscher, Francois Mitterand und Michail Gorbatschow (!), John F. Kennedy (!) oder Bill Clinton (!) und vieler weiterer großer Europäerinnen und Europäer, die aus jeder noch so verzwickten Sackgasse Auswege im grenzüberschreitenden Gespräch entwickelten, im vertrauensstiftenden Dialog und in der verantwortungsvollen Tat gangbar machten.

„Sprung aus der Geschichte“ der selbst errichteten Hermetik!

All die genannten Persönlichkeiten mit europäischem Format verstanden es, den von Walter Benjamin beschriebenen „Sprung aus der Geschichte“ im richtigen Moment zu wagen, dabei auf kommunikative Vernunft – nicht nur auf die instrumentelle Bauernschläue eines von Odysseus geschulten politischen Trickbetrügers zu setzen -, dabei die ihnen anvertrauten Menschen in ein besseres Europa mitzunehmen. Noch sind gute Lösungen für alle möglich, wenn den Hermetisierungen ebenso wie den rhetorischen Auf- und Zurüstungen unverzüglich abgeschworen wird. Versöhnung und Verständnis bedürfen eines tragfähigen Mythos ebenso wie einer vernunftgeleiteten Diplomatie, die auf die Schaffung von Nutzen, Sinnstiftung und Wert am Verhandlungswege setzt. Bruno Kreisky brachte das auf den Punkt: „Wenn es erst einmal einen Verhandlungstisch gibt, wird den Leuten, sobald sie daran gewöhnt sind, rasch klar, dass sie, wenn sie von diesem Tisch aufstehen, früher oder später doch wieder an ihn zurückkehren müssen. Es wird geteilte Meinungen geben, und nichts ist wichtiger, als in bestimmten Situationen geteilte Meinungen zu provozieren. Aber niemand wird es wagen, das Tischtuch zu zerschneiden.“ (Bruno Kreisky, Erinnerungen (2007), S. 480)

Christian Ehetreiber

Links:

Eine Chronologie der Krise in Griechenland

http://orf.at/stories/2288171/2288076/

http://orf.at/stories/2288223/2288224/

Geschlossene Banken und ein „brauchbarer Antrag“

http://orf.at/stories/2288386/2288387/

Zeitliche Enge, Bedingungen und Druck

http://orf.at/stories/2288223/2288224/

EZB verlängert Nothilfe für griechische Banken, die geschlossen bleiben

http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-07/griechenland-aktuell-live-blog-150708

Kein feiner Plan: Der neue griechische Finanzminister erscheint ohne Plan in Brüssel

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/griechenland/sondergipfel-bruessel-schaeuble-will-keinen-schuldenerlass-13689659.html

http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-07/griechenland-grexit-yanis-varoufakis-alexis-tsipras