Der armlose Geiger Unthan: Ein Kronzeuge gegen die Idee vom „lebensunwerten Leben“

Christian Ehetreiber im Gespraech mit Leopold Neuhold

Christian Ehetreiber im Gespräch mit Leopold Neuhold

Am Ende seiner Aufzeichnungen aus dem Leben eines Armlosen zieht der ohne Arme geborene Geiger Carl Hermann Unthan folgendes Resümee: „Ich fühle mich dem Vollmenschen gegenüber in nichts verkürzt […] Noch nie habe ich einen Menschen gefunden, mit dem ich nach Betrachtung aller Umstände hätte tauschen mögen.“ Peter Sloterdijk setzte in seinem Buch „Du musst dein Leben ändern“ Carl Hermann Unthan ein Denkmal, porträtiert ihn als heroisches Vorbild einer Lebensphilosophie jenes sich erhebenden Dennoch, das selbst die steilsten „Vertikalspannungen“ mit Kampf, Mut und Demut überwindet. „Er [Unthan] bleibt der Täter seines Lebens und wird kein Kollaborateur der vorgeblich übermächtigen Umstände“, rekapituliert Sloterdijk die beeindruckende Lebensgeschichte Unthans. (Sloterdijk, S. 75f)

http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Herrmann_Unthan

Unthan, der Armlose, als lehrreiche Parabel für Kopflose

Der armlose Geiger Unthan möge den kopflosen Befürwortern der Sterbehilfe eine Parabel für die bedingungslose Verteidigung der Menschenwürde sein. Seit mehreren Monaten rauscht eine unselige Sterbehilfedebatte durch den Blätterwald Europas, die vom moralphilosophischen, theologischen, medizinischen, sozialwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Forschungsstand meist völlig abgekoppelt geführt wird. Die Befürworter „argumentieren“ auf dem plakativen Niveau von Boulevard. Sie insinuieren u. a. den ganzseitig gelähmten, des Sprechens verlustig gegangenen Schlaganfallpatienten als Modellfall. Der im unerträglichen Leid des Wachkomas Verharrende müsse von seinem Leiden erlöst werden, da er sich zumeist gerne selbst von diesem Schicksal erlösen würde, dies aber nicht kann. Daher müsse die aktive Sterbehilfe dem bedauernswerten Leben ein Ende setzen, so die Befürworter. Höchste Zeit für unsere ARGE Jugend, diesem europaweit etablierten Verblendungszusammenhang zur Sterbehilfe mit triftigen Argumenten die Stirn zu bieten. Wer die Sterbehilfe durchsetzt, der öffnet die Büchse der Pandora zur Dehumanisierung des Menschen, weil die Gesellschaft dann beginnt, sich zum Herren für lebenswertes versus lebensunwertes Leben aufzuschwingen.

Drei Ebenen des Wissens auf dem Podium - Wissenschaftliches Wissen, narratives Wissen und Praxiswissen

Drei Ebenen des Wissens auf dem Podium – Wissenschaftliches Wissen, narratives Wissen und Praxiswissen

Sterbehilfe als Ausdruck einer kollektiven Regression

Christian Ehetreiber moderierte die Diskussion über den blutgetränkten Weg zur Inklusion allen Lebens am 14.5.2014 im Brucker Stadtmuseum anlässlich der Buchpräsentation „Es war nicht immer so. Leben mit Behinderung in der Steiermark zwischen Vernichtung und Selbstbestimmung 1938 bis heute. Hrsg. v. Heimo Halbrainer und Ursula Vennemann. Graz: CLIO 2014. Eine gemeinsame Veranstaltung im Brucker Stadtmuseum der ARGE Jugend, der Lebenshilfe Graz, Graz-Umgebung und Voitsberg und Bruck an der Mur und des Vereins CLIO.

 

In seinem Eröffnungsstatement unterstrich Ehetreiber, dass aktuell eine europaweite „kollektive Regression“ feststellbar sei, die Sterbehilfe als vermeintlichen Akt von Selbstbestimmung zu verkennen, was zum Glück von der Mehrheit der Verantwortungsträger in Politik, Religionen, Philosophie, Medien und Zivilgesellschaft nicht geteilt werde. Heimo Halbrainers und Ursula Vennemanns jüngst erschienenes Buch sei daher ein fundiertes Memorandum, um den regressiven Verblendungszusammenhang zum Thema Sterbehilfe aus einer interdisziplinären Perspektive zu entzaubern. Die NEOS, Österreichs einzige Partei, die Sterbehilfe nach dem Schweizer Modell legalisieren will, sei das Buch dringend zu empfehlen, so Ehetreiber an die Adresse der NEOS wie auch an vereinzelte Befürworter in allen anderen Parteien.

VBGM Peter Koch und Christian Ehetreiber im Vorgespraech zur Veranstaltung

VBGM Peter Koch und Christian Ehetreiber im Vorgespräch zur Veranstaltung

„Lebensunwertes Leben“ als Kostenfaktor?

Wie so oft sind es kritische Historiker, die durch nüchterne Recherche an der Ausnüchterung benebelter Gehirne mitwirken. Heimo Halbrainers Beitrag verweist darauf, dass die Debatte über „lebensunwertes Leben“ lange vor den Nationalsozialisten in mehreren Staaten im professoralen Talar und im Gefolge einer Darwinschen Serengeti-Ethik des survivals of the fittest geführt wurde. Der Debatte ist von Beginn an die Argumentationsfigur der ökonomischen Schädigung des Volkseinkommens durch „lebensunwertes Leben“ eingeschrieben. Die Professoren Alfred Hocke und Karl Binding brachten bereits 1920 in der Broschüre „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ diese ökonomische Denkfigur ohne viel Federlesens auf den Punkt: „Die Anstalten, die der Idiotenpflege [!] dienen, werden anderen Zwecken entzogen; ein Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegt und fördernder Arbeit entzogen […], dass ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhüllen [!] dahinaltern“, so Hocke und Binding im Geiste einer Hyänen-Moral. Die Nationalsozialisten setzten in ihrem Euthanasieprogramm die europaweit entwickelten sozialdarwinistischen Schnapsideen mit der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit in tödlicher Form um: 18.268 behinderte Menschen wurden in Hartheim ermordet. Halbrainers und Vennemanns Buch setzt – in allerbester CLIO-Tradition – all jenen mutigen Menschen ein Denkmal, die sich dem Euthanasie-Irrsinn der Nazis widersetzten und Menschenleben retteten wie etwa Schwester Capistrana aus Kindberg, die vier Personen vor dem Tod in Hartheim bewahrte.

Ausmerzungsdiskurs im Talar des Professors

Wir sollten heute nie vergessen, dass dieser Massenmord zunächst mit pseudowissenschaftlichem Eiferertum begann und sich sehr bald im Blätterwald ausbreitete wie ein zerebrales Ebola-Virus. Hitlers Euthanasie-Programm fiel also nicht vom Himmel, sondern konnte sich auf einen unseligen, von Darwins Auslese-Prinzip und von Nietzsches Übermenschengefasel imprägnierten Diskurs der Ausmerzung des lebensunwerten Lebens stützen. „Was fällt, das soll man auch noch stoßen“, lautete in seinem „Zarathustra“ einer der kategorischen Imperative seiner Übermenschen-Unmoral. Im „Antichrist“ wurde Nietzsches Antihumanismus noch direkter: „Die Schwachen und Missratenen sollen zugrunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.” Vor den zitierten Hinter- und Abgründen professoraler Ausrottungsphantasmen müssen wir den Anfängen der jetzigen Debatte entschieden die Stirn bieten, um den unhaltbaren Unsinn in den Argumentationen der Sterbehilfebefürworter nicht hegemonial werden zu lassen.

Der Buchtitel - Es war nicht immer so - ist ein Hinweis auf den langen Weg vom Antihumanismus zum Humanismus

Der Buchtitel “Es war nicht immer so” ist ein Hinweis auf den langen Weg vom Antihumanismus zum Humanismus

1938 bis 2014: Von Ausmerzung über Aussonderung zur Inklusion

Ursula Vennemann, Präsidentin der Lebenshilfe Graz, Graz-Umgebung und Voitsberg, referierte den in 75 Jahren vollzogenen Paradigmenwechsel von der Ausmerzung (NS-Zeit) über die Aussonderung (Sonderschulen und Sonderkrankenhäuser der Nachkriegszeit) bis in die aktuelle Ära der Inklusion von geistig oder körperlich beeinträchtigten Menschen. Die Lebenshilfe entstand bekanntlich als Selbsthilfegruppe von Menschen, die sich in historisch bedingter Sorge um das Wohlergehen ihrer beeinträchtigten Kinder und Angehörigen zusammenschlossen und deren Menschenwürde in jahrzehntelanger Arbeit in der gesellschaftlichen Mitte verankern konnte. Der von der Lebenshilfe 2013 verabschiedete Forderungskatalog zur Inklusion ist ein politischer Schutzwall gegen alle regressiven Tendenzen in der Debatte zum Umgang mit beeinträchtigten Menschen.

Das Publikum stellte sehr sensible und zentrale Fragen über den Umgang mit komplexen Situationen unseres Lebens, die uns oft überfordern

Das Publikum stellte sehr sensible und zentrale Fragen über den Umgang mit komplexen Situationen unseres Lebens, die uns oft überfordern

Plädoyer für die Erhabenheit der Menschenwürde über alle Zweckrationalität

Der Moralphilosoph Leopold Neuhold verfügt über die unschätzbare Gabe, das ernste Thema mit feinsinniger Ironie und mit britischem Humor zu würzen, ohne dabei die intellektuelle Redlichkeit zu relativieren. Sein Buchbeitrag beginnt mit Woody Allens Bonmot: „Ich habe keine Angst vor dem Tod. Es ist nur so, dass ich nicht dabei sein will, wenn es geschieht.“ Der Tod – so Neuhold – sei im Zeitalter der High-Tech-Medizin, die permanent Grenzen des Machbaren überschreitet, ein Hohn. Der Tod tritt heutzutage als Antipode und Todfeind der Lebensgrenzen hinausschiebenden Intensivmedizin auf. Er werde als schmerzliche Niederlage erlebt, da man auch den Tod – wie fast alle anderen Dinge unseres Lebens – steuern möchte. Das in der Antike verbreitete Ideal eines verschlungenen Verhältnisses einer Kunst des Lebens und Sterbens sei für heutige Zeiten ungangbar.

Neuhold hält in seinem Buchbeitrag ein Kantianisches Plädoyer für die bedingungslose Hegemonie der Menschenwürde. Wer den Menschen auf Funktionskalküle und Kostenfaktoren reduziert, so Neuhold mit Rückgriff auf Kant, der nimmt durch diese instrumentalisierende Perspektive die Tötung von Menschen durch Funktionsverluste oder Kostenargumente notwendig in Kauf. Der Mensch, so Kant, existiere „als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“, heißt es dazu wörtlich beim grandiosen Königsberger Aufklärungsdenker. Neuhold erläutert die lucide Bedeutung dieser Kantianischen Argumentation, den Menschen als Zweck an sich und eben nicht als Mittel zum Zweck zu begreifen: „Mit der Figur der Menschenwürde wird der Mensch also der verrechnenden Konkurrenz entzogen, was besonders im Hinblick auf die Schwachen und die, die keinen Anwalt haben, der ihnen in einer aufgezwungenen Verrechnung beistehen konnte, wichtig ist.“ (Neuhold in Halbrainer/Vennemann, S. 178) Die Erhabenheit der Menschenwürde ist es letztlich, die – in Form von Bildungsprozessen angeeignet, durch kommunikative Vernunft geteilt und anerkannt – den Menschen vor der Zurüstung auf Rentabilitäts- und Kostenfaktoren schützt und ihn in jedem erdenklichen Falle als lebenswert in Menschenwürde entwirft: Ist diese Begrenzung der instrumentellen Zweckrationalität durch die Erhabenheit der Menschenwürde ein humanistisches Apriori für alle Zeiten? Wird das Europa der Zukunft Carl Herrmann Unthans bewundernswert erfolgreichen Kampf gegen Beeinträchtigtsein zum Leitbild einer sich selbst bemächtigenden Inklusion in Schulbüchern machen oder Nietzsches antichristliche Übermenschen-Unmoral im neoliberalen Kleid der Kostensenkung – behübscht mit dem rhetorischen Zierrat des „freien Willens“ – wiederbeleben? Es wird an uns denkenden und reflexiv handelnden BürgerInnen liegen, die Büchse der Pandora zum Antihumanismus verschlossen zu halten!

Christian Ehetreiber

M. Mauthner, Ch. Ehetreiber, H. Halbrainer, U.  Vennemann, P. Koch, I. Kainz, L. Neuhold und R. Harrer im Brucker Stadtmuseum am 14.5.2014

M. Mauthner, Ch. Ehetreiber, H. Halbrainer, U. Vennemann, P. Koch, I. Kainz, L. Neuhold und R. Harrer im Brucker Stadtmuseum am 14.5.2014

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Links:

Zum Leben des armlosen Geigers Carl Herrmann Unthan

Link zum Verein CLIO (Buchbestellungen)

Rezension zu Peter Sloterdijks „Du musst dein Leben ändern“

Link zur Lebenshilfe Steiermark

NEOS-Chef Matthias Strolz begrüßt das Schweizer Modell der Sterbehilfe

Die Grüne Eva Mückstein mit befremdenden Aussagen zur Sterbehilfe