„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“
Michail Gorbatschow wusste das und fiel der eigenen Lebensweisheit politisch zum Opfer. Ein Urlaub auf der Krim markierte den Anfang seines Endes als Staatschef der Sowjetunion. David Cameron erging es ähnlich. Wer – wie seine pseudosozialistischen Vorgänger – jahrelang an den vitalen Bedürfnissen der BürgerInnen radikal vorbeiregiert, den bestraft das demokratische Votum eines bitter enttäuschten Volkes. Diese Diagnose betrifft aktuell nicht nur die britische Regierung, sondern die meisten Staaten der EU.
Das Ergebnis des britischen Referendums ist ohne Wenn und Aber zu akzeptieren. Es ist ein eindeutiges Votum, das den Bürgerwillen über die phraseologische Propaganda der abgehobenen Eurokraten stellt. Der Brexit ist – bei demokratiefördernder Lesart – ein essenzieller Beitrag zu einer überfälligen neuen Vision Europas, kein Weg in den Untergang, schon gar kein Freibrief für neonationalistische Retro-Projekte oder für die Erhebung von Populismus zum Programm.
Die Enttäuschten präsentieren den Regierenden die Rechnung
Die enttäuschten und getäuschten Briten rebellierten auf demokratische Weise: ArbeiterInnen in ganz Europa müssen bei stagnierenden oder sinkenden Löhnen immer härter schuften. Gewerkschaften und Betriebsräte werden seit Margaret Thatcher von Finanzmärkten, Banken und Konzernen immer mehr entmachtet. Arbeitslosen und Prekarisierten hängt der „Sozialismus der Reichen“ den ohnedies kargen Brotkorb immer höher.[1] Tüchtige Unternehmer der Realwirtschaft werden von einem unerträglichen Hyperbürokratismus und einer absurden Regulierungswut ebenso ruiniert wie von der aberwitzigen Kreditklemme. Obwohl die EZB und die Nationalbanken wie Dagobert Duck in Geldmeeren baden, kommt dieses Geld infolge überzogener Kriterien der Kreditvergabe nicht in der Realwirtschaft an.
Spiegel berichtet über Ankauf maroder Anleihen durch EZB
Standard berichtet über Ankauf von Staatsanleihen der EZB in Billionenhöhe
Anstatt ein europaweites, unbürokratisches und den regionalen Bedarfslagen angepasstes öko-soziales Investitionsprogramm zu schnüren, kauft die EZB „faule Anleihen“ in astronomischer Höhe auf. Kann kollektiver Bankenschwachsinn, legitimiert von den politischen Kammerdienern und Bütteln in Europas Hauptstädten noch an Irrsinn gesteigert werden? Das britische Votum repräsentiert ein klares „Nein“ zu all den Täuschungen und Enttäuschungen einer hohlen EU-Propaganda, die den meisten BürgerInnen Europas zum Halse heraushängt.
Verstrickungen und Verzettelungen im Kleinen
Wer Glühbirnen verbietet, Staubsauger in der Wattzahl beschränkt, an den ganz großen europäischen Herausforderungen indes kläglich scheitert, den strafen die BürgerInnen zu Recht ab: Ungelöste Flüchtlings- und Migrationswelle; kein Schutz der EU-Außengrenzen; Massenarbeitslosigkeit UND gigantische Staatsverschuldungen; Erosion der sozialen Sicherungssysteme; Bürokratisierung als Treibstoff des Bürgerzorns und der Paralyse für Arbeit und Wirtschaft. Die inakzeptable Handlungs- und Entscheidungshemmung in den EU-Gremien wie auch in den Nationalstaaten erzeugen Frustration, Enttäuschung, Zorn und Resignation bei den BürgerInnen. Wen diese berechtigten Emotionalreaktionen der BürgerInnen in den Regierungsstuben „verwundern“, der wird weitere bittere Wahlniederlagen hinnehmen müssen.
Ungelöstes führt zu Renaissance von Rassismus und Extremismus
Das seit Jahren ungelöste Thema der Migrationsströme nach Europa war nicht nur in Großbritannien wahlentscheidend. Das klägliche Versagen der Nationalstaaten führt politische Extremisten von Wahlsieg zu Wahlsieg. Die Renaissance von Rassismus und Radikalismus haben die nationalen Regierungschefs mit ihrer kleinmütigen „Mir-Samma-Mir-Mentalität“ angeheizt, indem sie Angela Merkels beherzten Vorschlag der solidarischen Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-28 verworfen haben. Der sogenannte Juncker-Plan genoss bekanntlich eine satte parteiübergreifende Mehrheit im Europäischen Parlament, zerschellte aber an den nationalen Regierungen, somit nicht an der EU, wie zu viele Politiker in größter Unverschämtheit herunterbeten. Die europäischen Eliten säen zumindest seit Margaret Thatcher Wind und ernten nun politische Orkane. Die Vision vom „europäischen Friedensprojekt“ wandelt längst an Abgründen.
Neoliberalismus bleibt am Ruder Europas!
Der Neoliberalismus ist gescheitert, es lebe der Neoliberalismus! Dieser paradoxe Slogan bringt das Desaster der neoliberalen Hegemonie in der EU auf den Punkt. Die deregulierten Märkte haben nirgends in Europa und nirgends in der Welt zu Wohlstand für alle BürgerInnen geführt, sondern eine völlig inakzeptable Verteilung von Reichtum und Wohlstand geschaffen. Alle vorliegenden Reichtums- und Armutsberichte lassen sich mit dem Sprichwort „Reiche werden immer reicher, Arme immer ärmer“ zusammenfassen. Die 62 reichsten Personen besitzen gleich viel wie die 3,5 Milliarden der Ärmsten. Die meisten Politiker Europas diskutieren dennoch lieber über Verschärfungen der kärglichen Mindestsicherung als über die angemessene Besteuerung dieser gigantischen Vermögen. Der grotesken Ungleichverteilung zum Trotz trommeln Neoliberale und Ultrakonservative, die wir auch in der europäischen Sozialdemokratie finden, wie verblödete Duracell-Hasen ihr tödliches Lied der deregulierten Märkte. Allen Desastern zum Trotz behaupten sie frivol, die EU sei ein „übersoziales Biotop“, eine unternehmerfeindliche Komfortzone des Minderleistertums und der kollektiven Leistungsverweigerung. Der Neoliberalismus ist – in den Worten Stephan Schulmeisters – jene schwere Geisteskrankheit, für deren Therapie er sich hält.
Oxfam Bericht über Vermögen 2016
Starke Wirtschaft braucht starke soziale Sicherungssysteme
Mit neoliberaler Marktsakralisierung wird freilich keine neue Europavision mit den BürgerInnen zu entwickeln sein. Mit regressiver Staatssakralisierung ebenfalls nicht. Ein starker Wirtschaftsstandort braucht einen starken Sozialstandort et vice versa. Die neoliberale Kriegsrhetorik gegen den sinnvollen Ausbau sozialer Sicherungssysteme ist seit Anbeginn der „neoliberalen Revolte“ in den 1980er Jahren ein politisches Verbrechen. Die Komplizen und Kumpane in Politik, Wirtschaft, Banken und Medien müssten vor den EUGH gestellt werden, da sie die Gewinnmaximierung der Oligarchen über die Vitalinteressen der BürgerInnen stellten. Wie können Politiker als Volksvertreter eine Wirtschaftsordnung akzeptieren, die jahrzehntelang Massenarbeitslosigkeit hinnimmt, zugleich die sozialen Sicherungssysteme systematisch ruiniert und Steuerparadiese mit Augenzwinkern fördert? Ein neues Europa muss JEDE/N BÜRGER/IN ausrechend sozial absichern, Zugang zu qualitätsvoller und gut bezahlter Erwerbsarbeit schaffen und dazu die Betriebe der Realwirtschaft mit unbürokratischen Rahmenbedingungen bestens ausstatten. Dieses europäische Leitziel „Starker Wirtschaftsstandort = starker Sozialstandort“ bedingt freilich eine deutlich höhere Besteuerung der Oligarchen in der gesamten EU!
Trotz Brexit bitte kein Zurückfallen in kollektive Regression
Großbritannien bleibt trotz des Brexit ein wichtiger Teil von Europa! Unser modernes Europa verdankt den Briten unendlich viel: Sir Winston Churchills vorbildlicher Mut und seine Entschlossenheit im Kampf gegen Hitler hat erst jenes Europa ermöglicht, das den Nationalsozialismus besiegt und den Stalinismus in Schach gehalten hat. Die Europäische Union ist ein unschätzbares kulturelles und politisches Erbe der Westalliierten, ein Erbe, welches über den Gräbern von Auschwitz, Stalingrad und Hiroshima den Massenmord und den Krieg durch den parlamentarischen Verhandlungstisch ersetzt hat: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, das ist die zentrale Vision Europas nach 1945. Der Brexit darf daher nicht dazu verführen, in regressivster nationalistischer Blindheit die Parlamente wiederum durch Grenzzäune, eiserne Vorhänge oder gar durch Blitzkriege zu ersetzen. Engagieren wir uns daher mit den widerspenstigen Briten für ein demokratisches Europa der Menschenrechte und des Friedens im Geiste Churchills, Adenauers, DeGaulles, Brands, Kreiskys, Kohls, Genschers und Gorbatschows, um nur einige der Wegbereiter zu nennen.
Vielschichtige Trennlinien durchziehen Europa
Die Verwerfungen und Trennlinien in Europa sind freilich vielschichtig, unübersehbar, komplex und werden durch mediale Zuspitzungen mitunter zu unüberwindlichen Gräben vertieft, was oft in Form von plakativen Überschriften zum Ausdruck gebracht wird: Eurokeynesianer gegen Neoliberale bzw. Neokonservative; Profiteure der Globalisierung gegen regionale Modernisierungsverlierer; gut gebildete JungakademikerInnen gegen Hartz-IV-Jugendliche ohne Berufschancen; Muslime gegen das christliche Abendland; technologische Modernisierer gegen Ökofreaks; Welthandel gegen dörflichen Bauernmarkt; Stadt gegen Land u.v.m. Unser Zeitalter des „Gegen X und Gegen Y“ treibt Polarisierungen und Frontstellungen voran, die eine besonnene Europa- und Regionalpolitik abzurüsten statt zuzuspitzen hätte. Doch aktuell gehört die scharfe Schlagzeile eher zum Repertoire des Politischen als das gut abwägende Argumentieren auf Augenhöhe aller Akteure.
Europa nicht den Extremisten überlassen!
Eins ist gewiss: Wir dürfen Europa den Rechtsextremisten, Rassisten, Populisten und Ausländerfeinden ebensowenig überlassen wie jenen linkslinken Chaoten, die sich nur an Beckmesserei, Haarspalterei und bevormundender political correctness erfreuen, dieser anmaßenden Tyrannis im Namen vermeintlicher Freiheit. Beiden Ideologien gemeinsam ist deren permanente Entmündigung der BürgerInnen, die herablassende Arroganz gegenüber Mehrheitsmeinungen, die Nichtanerkennung von demokratischen Wahlergebnissen und die Pathologisierung jener politischen Positionen, die nicht in den eigenen Kram passen. Die demokratische Mitte muss sich gegen beide Formen des politischen Extremismus klar und parteiübergreifend positionieren und im langfristigen demokratischen Prozess die Eckpfeiler einer neuen europäischen Vision mit den BürgerInnen entwickeln: eine europäische Vision, die auf Demokratie, Menschenrechte, Frieden, soziale Gerechtigkeit und Weltethos setzt. Worin bestünde die Alternative?
Christian Ehetreiber
[1] Die jüngste Debatte über die unverschämte Kürzung der Sozialhilfe für Flüchtlinge initiierte übrigens David Cameron. Horst Seehofer, Werner Faymann und Sebastian Kurz sogen Camerons Vorstoß begierig auf und garnierten sie mit der dem Stammtisch geschuldeten Parole, die MigrantInnen mögen in den Arbeitsmarkt, nicht in die Sozialsysteme einwandern! Dass Großkonzerne in Bayern wie auch in Österreich in Steuerhinterziehung, Steuerfreiheit, Steuerdumping und Steuerbetrug einwandern, das erfährt nicht einmal ansatzweise soviel politische Aufmerksamkeit und Medienresonanz wie die parteiübergreifende Hatz auf Sozialhilfeempfänger.