Zum Tag der Menschenrechte: Zukunft braucht Erinnerung

„Zukunft braucht Erinnerung!“

Wir entlehnen dieses griffige Motto des Gleisdorfer Personenkomitees, welches zwei Mahnmäler in Zusammenarbeit mit den Gemeinden Gleisdorf und Nitscha zur Erinnerung an die Opfer des Todesmarsches ungarischer Jüdinnen und Juden vom April 1945 errichtet hat.

Siehe:https://www.facebook.com/media/set/?set=a.10152419086075667.1073741861.210980010666&type=1

Anlässlich des diesjährigen Tages der Menschenrechte enthüllte die Gemeinde Nitscha am 7.12.2014 das von Sabina Mahr entworfene Mahnmal in unmittelbarer Nähe zum Gemeindeamt auf einem zentral gelegenen Platz. Sabina Mahr gestaltete ihren Entwurf im Jahr 2006 noch als Schülerin im Rahmen des Gestaltungswettbewerbs für das Gleisdorfer Mahnmal. Gleisdorf entschied sich damals regelkonform für einen anderen Entwurf des Dreiervorschlages der Jury, weshalb Sabina Mahrs Entwurf nunmehr in Nitscha umgesetzt wurde. Die Steiermark verfügt mit den Todesmarsch-Mahnmälern in Eisenerz (Präbichl), in Gleisdorf, St. Anna am Aigen und Nitscha über vier Gemeinden, welche sich dem Thema der Todesmärsche der ungarischen Juden in Form von intergenerativen, langfristig angelegten Gedenkprojekten mit hoher Jugend- und BürgerInnenbeteiligung gewidmet haben. Ist damit in unserer Grünen Mark endlich genug gedacht worden an die Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus? Wozu soll denn weiterhin an die Opfer der Naziverbrechen erinnert werden, wo man ja eh schon so viel wisse und so viel Gedenkarbeit geleistet habe?

Endlich Gras drüber wachsen lassen?

Seit längerer Zeit häufen sich jene kritischen Stimmen zur Erinnerungs- und Gedenkarbeit, die endlich „Gras drüber wachsen“ lassen wollen, die dem „Schlussstrich unter die Nazigeschichte“ das Wort reden und die Faschismus und Nationalsozialismus in der geschichtlichen Mottenkiste endlagern wollen. Radikalere Stimmen sprechen gar von „Holocaust-Industrie“ (Norman Finkelstein) oder von einem zum sinnentleerten Ritual verkommenen moralisch echauffierten Alarmismus, der sich am ausgedacht Schrecklichen ergötzt und längst keine Bedeutung mehr für unsere Zukunft besitzt. Kurzum: An Abgesängen auf die zeitgeschichtliche Erinnerungs- und Gedenkarbeit des Zeitraumes von 1933 bis 1945 herrscht kein Mangel, der meist durch medien- und kulturindustrielle Motive befeuert ist nach dem Motto: Wer wagt den nächsten Tabubruch noch origineller, radikaler, wortgewandter?

Tag der Menschenrechte als „politisch-philosophischer Fixstern“

Der Tag der Menschenrechte ist indes ein hell leuchtender „politisch-philosophischer Fixstern“, um die mannigfaltigen Hypothesen zum „Ziehen eines Schlussstriches“ unter die NS-Geschichte zu überprüfen. Die am 10.12.1948 verkündete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist zuallererst eine weltpolitische Reaktion der Signatarstaaten auf Auschwitz und den Zweiten Weltkrieg nach dem Motto: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! Das NS-Regime hatte es in seiner zwölfjährigen Herrschaft vollbracht, einen Zweiten Weltkrieg mit über 55 Millionen Toten vom Zaun zu brechen und zugleich die massenindustrielle Tötung von Juden, Roma, Sinti, Homosexuellen, Deserteuren, Zeugen Jehovas, behinderten Menschen, Oppositionellen, Regimegegnern, Widerstandskämpfern, Radiohörern, die sogenannte „Feindsender“ der Alliierten hörten, und anderer Personengruppen im millionenfachen Ausmaß umzusetzen. Paul Celans Gedichtzeile aus der „Todesfuge“ verdichtet den zeitgeschichtlichen Sachverhalt, dem sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verdankt, in einprägsamer lyrischer Form: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“ Celan meinte damit freilich das Dritte Reich, das Millionen Menschen in den Abgrund gerissen hatte. Der 8. Mai 1945 wie auch der 10.12.1948 repräsentieren jene zwei historische Zäsurdaten, welche die Literatur- und Geistesgeschichte wie auch die Politik Österreichs, Deutschlands und Europas infolge der todbringenden faschistischen Überschattung bis heute prägen und mit einem Gründungsmythos ausstatten: mit Demokratie, Menschenrechten und Frieden als einem Herzstück der Europäischen Union, die sich eben nicht nur auf eine Wirtschaftsunion reduzieren lässt. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union ist vor dem zitierten Hintergrund eines „verheerenden 20. Jahrhunderts von Kriegen und Völkermord“ eine berechtigte Auszeichnung für die gemeinsame europäische Anstrengung, der Politik, dem Recht und der Diplomatie den klaren Vorrang gegenüber der kriegerischen Auseinandersetzung einzuräumen.

Geschichtsblindheit bietet die Bühne für Inszenierungen von kollektiver Regression

Diese in kursorischer Kürze postulierten Gedanken zum Tag der Menschenrechte erfordern jedoch brauchbare, die BürgerInnen Europas mit überzeugenden Evidenzen ausstattende zeitgeschichtliche Fundamente. Erst die durch zeitgeschichtliche Forschungstätigkeit und intergenerative Dialogarbeit gewonnenen Erkenntnisse sichern den universellen Mehrwert von Menschenrechten, Demokratie, Solidarität, Vollbeschäftigung mit starken sozialen Sicherungssystemen für die verbriefte Sicherstellung eines Lebens in Menschenwürde in den Köpfen und Herzen der Menschen, verankern diese im öffentlichen Bewusstsein und machen sie widerstandsfähig gegen Totalitarismen und Fundamentalismen jedweder Art: von neofaschistischen Strömungen über linksextremen Israelhass, Antisemitismus und Antiamerikanismus bis zum radikalen Islamismus von IS, Boko Haram, Taliban, Al Kaida oder Hamas. Ohne zeitgeschichtliche Forschung und ohne darauf gründende Demokratie- und Menschenrechtsbildung, die breite Mehrheiten der in Europa lebenden Bürgerinnen und Bürger als Akteure – nicht nur als passive KonsumentInnen – begeistern und in den demokratischen Prozess einbeziehen, werden sich all diese universellen Werte nicht dauerhaft behaupten oder gar weiterentwickeln lassen, sondern sie werden der politischen und philosophischen Erosion der Gleichgültigkeit, Ignoranz und sozialen Handlungshemmung anheim fallen und im propagandistischen Mahlstrom der Antidemokraten aller Couleurs zerrieben. Mehrheitlich geteilte Geschichtsblindheit verführt die Menschen zu regressiven Handlungsmustern aller Art, zu Reinszenierungen und Remakes von vermeintlich überwunden geglaubten Horrorszenarien nach der Denkfigur von Nietzsches „Ewiger Wiederkehr des Gleichen“, aus der kein Entrinnen möglich sei. Für ein selbstreflexives „Europa der Kantianischen Aufklärungstradition“ repräsentiert Nietzsches These der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen“ freilich nur einen literarischen, keinen gesellschaftspolitischen Wert, der uns jedoch wiederum nur durch sorgfältige zeitgeschichtliche Analyse- und Denkarbeit arbeit ersichtlich wird, wenn die Denkfigur der Generalisierung durch jene der Differenzierung ergänzt wird.

An der zeitgeschichtlich fundierten Reflexion im Modus einer dialogischen Aneignung von Geschichte führt somit kein Weg vorbei, um die Zukunft Europas und der weltweiten Staatengemeinschaft im Geiste der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gemeinsam weiterzuentwickeln. Unter diesem Aspekt braucht die Zukunft jedes Menschen auf der Welt die zeitgeschichtlich angereicherte Reflexion, um aus unserer Geschichte die richtige Lehre – und eben keine Leere – beziehen zu können. Wer die Geschichte vergisst, der hat den Großteil der Zukunft bereits verspielt, bevor er sie überhaupt in Angriff genommen hat. Christian Ehetreiber

Links:

Zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

http://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_der_Menschenrechte

Aktueller Menschenrechtsbericht des Menschenrechtsbeirates der Stadt Graz 2013

http://www.graz.at/cms/dokumente/10152653_3723035/edd2470d/MRB-Bericht2013_Web.pdf

Menschenrechtsbericht von amnesty international zu den Menschenrechten in aller Welt (Zusammenfassung)

http://www.amnesty.de/2013/5/22/amnesty-report-2013-zivilgesellschaft-global-staerken?destination=node%2F23307

Rede Christian Ehetreibers zur Enthüllung des Todesmarschmahnmals in Nitscha

http://issuu.com/arge_jugend/docs/rede_zur_er__ffnung_des_todesmarsch

Bilder zur Enthüllung des Todesmarschmahnmals auf FlickR

https://www.flickr.com/photos/81931736@N02/sets/72157649276594239/