Wozu Erinnerungsarbeit?

Überlegungen anlässlich der Gedenkfeiern für die Opfer des Nationalsozialismus in Eisenerz und in Graz

 

Maria Cäsar stand am Beginn unserer intergenerativen Dialogarbeit

Mit der unvergessenen Zeitzeugin, politischen Bildnerin und Freundin Maria Cäsar (13.9.1920 bis 1.9.2017) begann die ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus ab Mitte der 1990er Jahre intergenerative Zeitzeug*innengespräche. Maria Cäsar führte über ihre Tätigkeit im antifaschistischen Widerstand in Zusammenarbeit mit uns über 600 Zeitzeug*innengespräche an steirischen Schulen. In der Folge erweiterten wir mit Maria unseren Pool an Zeitzeug*innen. Zudem entwickelten wir mit regionalen Gedenkinitiativen einige ambitionierte Erinnerungsprojekte zum Zeitraum 1933 bis 1945, von denen die Projekte „Todesmarsch Eisenstraße 1945“ (gestartet im Oktober 2000) und „Erneuerung des Koloman-Wallisch-Weges“ (2022) von Bruck an der Mur auf den Hochanger exemplarisch genannt seien. Nähere Infos zu unserer Erinnerungsarbeit finden Sie unter folgendem Links:

Link zu den Erinnerungsprojekten der ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus

Link zum „Lebensmarsch zum Todesmarschmahnmal 2022“

Das mehrdimensionale Eisenerzer Erinnerungsprojekt

Alljährlich nehmen wir an den Gedenkfeiern für die Opfer des Faschismus beim Todesmarschmahnmal am Präbichl (31.10.2022) und beim Internationalen Mahnmal am Grazer Zentralfriedhof (1.11.2022) teil. Bürgermeister Thomas Rauninger und Kulturreferent Gerhard Niederhofer erwiesen mit einer Delegation aller im Eisenerzer Gemeinderat vertretenen Fraktionen den jüdischen Opfern des Todesmarsches vom 7. April 1945 mit einer feierlichen Kranzniederlegung die Ehre. In den retrospektiven Statements auf die seit dem Jahr 2000 beharrlich weiterentwickelten Gedenkkultur der Stadt Eisenerz verwiesen Thomas Rauninger wie auch Gerhard Niederhofer auf den Nutzen und Wert einer zukunftsbasierten Erinnerungskultur für die Entwicklung unserer Demokratie und für ein besseres Verständnis der aktuellen Zukunftsthemen: vom unentwegten Widerstreit zwischen Demokratie mit Diktaturen über die Friedenssicherung bis zum Klima- und Umweltschutz.

 

Erinnerungsarbeit eröffnet Handlungsspielräume

Erst die interdisziplinäre Aneignung der Zeitgeschichte schärft ein waches Bewusstsein von individuellen und gemeinschaftlichen Handlungsspielräumen. Eine selbstreflexive Erinnerungsarbeit eröffnet differenzierte Perspektiven auf aktuelle Herausforderungen, schafft eine gute Basis für die heute notwendigen Handlungsspielräume im Geiste von Menschenrechten, Demokratie, Freiheit, Solidarität und Frieden. Das menschliche Handeln unter repressiven Zwangsbedingungen der Zeit von 1933 bis 1945 bietet dazu einen unerschöpflichen Fundus für feinsinnige Lern- und Entwicklungsprozesse innerhalb des Kontinuums zwischen „Mitmachen beim Massenmord“ über schweigenden, das Unrecht duldenden Konformismus bis zu oppositionellem und widerständischem Handeln, oft unter Inkaufnahme von Repressalien und unter Einsatz des eigenen Lebens. Die zeitgeschichtliche Forschung zum Todesmarsch der ungarischen Jüdinnen und Juden sicherte die gesamte Bandbreite an Handlungsspielräumen: vom Mitmachen des Eisenerzer Volkssturmes beim Massenmord am Präbichl, dazu unzählige weitere Ermordungen in über 100 Gemeinden von der ungarischen Grenze bis Mauthausen. Die Forschung rekonstruierte jedoch auch beeindruckende, vorbildliche Beispiele von Zivilcourage im Geiste der Mitmenschlichkeit. Die Familien Juvanschitz aus St. Peter Freienstein und Maunz aus Landl bei Hieflau, die den Jüdinnen und Juden unter Lebensgefahr Hilfe angedeihen ließen, seien exemplarisch genannt. Im Zuge unserer Recherchen und Zeitzeug*innengesprächen in mehreren steirischen Gemeinden wurde uns klar, dass JEDE Hilfeleistung für die ungarischen Jüdinnen und Juden nicht nur den Hunger und den Durst stillten, sondern den Glauben an die Mitmenschlichkeit selbst in diesen finsteren Zeiten der rabiatesten Menschenverachtung lebendig hielt. Wenn die Mehrheit der Menschen in die Propaganda- und Repressionsmaschinerie eines totalitären Regimes verstrickt ist, kommt es auf jede – individuelle und gemeinschaftliche – verantwortungsvolle Handlung auf Seiten der Menschenwürde und der Menschenrechte an. Dies sei uns eine universelle, überzeitliche Lehre aus der Zeit zwischen 1933 und 1945.

 

Das Internationale Mahnmal: ein Brückenprojekt zwischen der Steiermark und Slowenien

In Zusammenarbeit mit den drei Opferverbänden – KZ-Verband, ÖVP Kameradschaft der politisch Verfolgten und Bekenner Österreichs und dem Bund der sozialistischen Freiheitskämpfer*innen – lud die Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr – in Tradition ihrer Amtsvorgänger Alfred Stingl und Siegfried Nagl – zur Gedenkfeier beim Internationalen Mahnmal am Grazer Zentralfriedhof ein. Das Internationale Mahnmal gründet auf einer Initiative des vormaligen Ersten Landeshauptmann-Stellvertreters Fritz Matzka und wurde im November 1972 errichtet. Auf der hohen Säule findet sich die in mehreren Sprachen verfasste, überzeitlich gültige Mahnung an die Nachgeborenen: „Hütet Freiheit und Frieden. Denn wir starben für sie.“ Das Internationale Mahnmal gedenkt der Opfer des Faschismus und verbindet die Stadt Graz mit der Republik Slowenien, die alljährlich mit ranghohen politischen Repräsentant*innen an der Gedenkfeier teilnimmt. Die Grazer Stadtregierung, die steirische Landesregierung und die Republik Slowenien setzen auf diesem Wege ein Europäisches Zeichen für Demokratie, Frieden und Menschenrechte.

 

Wozu Erinnerungsarbeit?

In einigen Statements mischten sich Skepsis, Verzweiflung und Resignation in Anbetracht einer massiven mehrfachen Krisen- und Katastrophenlage, von der drohenden Klimakatastrophe über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bis zur militärischen Hochrüstung in mehreren Regionen unserer Welt. Offenkundig finde – Ingeborg Bachmanns Bonmot gemäß – die Geschichte als große Lehrmeisterin keine Schüler. Was vermöge denn Erinnerungsarbeit angesichts der geballten Wucht an weltweiten Krisen, Katastrophen und Tragödien überhaupt auszurichten? Wozu seien denn die Erinnerungsarbeit und politisches und soziales Engagement für eine gerechtere Welt überhaupt noch sinnvoll? Befinden wir uns nicht längst in einem Meer der Vergeblichkeit und der Ausweglosigkeit? Vorweg sei freimütig eingeräumt, dass angesichts der weltweiten Katastrophen die Zunahme an Pessimismus und Resignation – selbst bei politisch wachsamen Bürger*innen – zu respektieren und nachzuvollziehen ist. Doch was bringt uns ein dauerhaftes Vollbad im Bassin rabenschwarzer Gefühle und Stimmungslagen? Was vermag eine pessimistisch-resignative Haltung denn besser als eine mit Zuversicht und Optimismus? Was hilft uns die Abwendung vom zugegeben mühsamen politischen Prozess und die Einrichtung in einem neuen Biedermeier?

 

Churchills Zuversicht zur Verteidigung von Demokratie, Frieden und Freiheit

Ich erinnere beim Auflodern resignativer Stimmungen stets an Sir Winston Churchills bisweilen vernünftig zweifelnde (!), insgesamt jedoch unerschütterliche Zuversicht, als dieser vom 10. Mai 1940 bis zum 22.6.1941 einem nationalsozialistisch-faschistischen Europa gegenüberstand, das von Narvik bis Catania und von Madrid über Paris bis zur polnisch-russischen Grenze reichte. Die NS-Kriegsmaschinerie mit ihren Verbündeten war zunächst an nahezu allen Kriegsschauplätzen siegreich. Gemeinsam mit den vier Alliierten Mächten – USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion – gelang es Churchill dennoch, das NS-Regime zu besiegen, die Demokratie, den Frieden und die Freiheit in vielen Staaten wieder zu ermöglichen.

 

Die Erinnerungsarbeit lehrt uns freilich Demut und Bescheidenheit, indem wir unser individuelles und gemeinschaftliches Engagement für eine gerechtere und friedlichere Welt niemals überschätzen sollten. Wir sollten unser aller politisches Engagement aber ebenso wenig unterschätzen!

 

Christian Ehetreiber