Zivilcourage in einer Zeit ohne Gnade

Der Verein Frikulum enthüllte Gedenktafel für Zivilcourage in Kastenreith bei Weyer

„In einer Zeit ohne Gnade setzen tapfere Frauen und Männer Zeichen der Menschlichkeit!“ Unter diesem Motto lud der Weyerer Kulturverein Frikulum zur Enthüllung einer Gedenktafel für die Opfer des Todesmarsches vom 11. April 1945, die in den letzten Kriegswochen durch Kastenreith an der Enns in Richtung KZ Mauthausen getrieben wurden. https://www.frikulum.at/de/kontakt

Die Gedenkinitiative setzte mit der Enthüllung der Gedenktafel nicht nur ein weiteres wichtiges Erinnerungszeichen an die jüdischen Opfer der Todesmärsche. Die Weyerer Gedenkinitiative rund um den Historiker und Weyerer Vizebürgermeister Dr. Adi Brunnthaler gedachte jener acht Persönlichkeiten und weiterer unbekannter Personen aus der Region, die den geschundenen Jüdinnen und Juden couragiert, solidarisch und unter Lebensgefahr beistanden: „Sie [die HelferInnen] taten das, obwohl jede Hilfe mit dem sofortigen Erschießen oder der Mitnahme ins Konzentrationslager bedroht wurde, “ heißt es zu diesen berührenden Formen von Nächstenliebe „in einer Zeit ohne Gnade“. Die mutigen HelferInnen teilten Lebensmittel mit den hungernden und erschöpften Jüdinnen und Juden, versteckten einige sogar vor dem Zugriff der Nazischergen.

Maria Maunz: eine steirische Gerechte unter den Völkern

Vergleichbare couragierte Handlungen finden wir entlang aller Routen der Todesmärsche 1945: Die bäuerliche Familie Maunz bei Landl in Hieflau etwa wagte es, trotz expliziter Todesdrohungen der Nazis, eine große Gruppe an Jüdinnen und Juden auf ihrem Bauernhof zu verpflegen. Ich durfte mit Maria Maunz über diese mutige Tat ihrer Familie einige berührende Gespräche führen. Maria erhielt für ihre Mitmenschlichkeit die israelische Auszeichnung einer Gerechten unter den Völkern, eine Ehrung für nichtjüdische Einzelpersonen, die während der NS-Zeit ihr Leben einsetzten, um Juden vor der Ermordung zu retten. Im Jahr 2004 begegneten sich Maria Maunz und Judita Hruza, eine Überlebende des Todesmarsches, bei der Enthüllung des Mahnmales am Präbichl durch die Stadt Eisenerz. Judita Hruza und Bela Budai, ein weiterer Überlebender, erzählten damals von den erlittenen Qualen, vor allem aber auch von der Hilfsbereitschaft vieler Menschen, die sie in ihrer Zuversicht und in ihrer Hoffnung auf ein Entrinnen vor der Ermordung bestärkten. Der Historiker Wolfgang Brossmann erzählte mir jüngst über seine Recherchearbeiten im digitalen Archiv von Yad Vashem, wo er zahlreiche Berichte von Überlebenden der Todesmärsche sicherstellen konnte, die von den Gräueltaten ebenso Zeugnis ablegen wie von Handlungen der Mitmenschlichkeit. http://www.auge-history.eu/

 Zeitgeschichte als Medium der Demokratie- und Menschenrechtsbildung

Beide Aspekte der Erinnerungsarbeit – das Eingedenken des unermesslichen Leides der jüdischen Opfer und das Hochhalten der Erinnerung an die mutigen Menschen mit Zivilcourage und Hilfsbereitschaft – sind für uns Nachgeborene von unschätzbarem Wert für essenzielle Werthaltungen in unserem Leben: für Mut, für Solidarität, für aufrechten Gang, für konsequente Kritik, für Widerspruch und für Widerstand gegen alle sich stets schleichend anbahnenden Prozessen der Dehumanisierung von Menschen und des Einbruchs von Gewalt in Alltag und Politik. Die zeitgeschichtliche Erinnerungsarbeit nach dem Weyerer Vorbild ist somit ein wertvoller Beitrag zur Demokratie-, Menschenrechts- und Persönlichkeitsbildung des einzelnen Bürgers wie auch zu einer menschenfreundlichen politischen Kultur einer ganzen Gemeinde. Die gemeinsame intergenerative zeitgeschichtliche Spurensuche, die Lektüre von Fachliteratur, das Stöbern in Archiven und Quellen, das Sichten von Erlebnisberichten der Überlebenden, die Gespräche mit Zeitzeugen und die Entdeckung der historischen Orte des Geschehens machen den zeitgeschichtlichen Forschungsstand erst in multisensorischer Form erlebbar und begreifbar. Mit jedem recherchierten Einzelschicksal entsteht ein reflektiertes Bewusstsein für die unermesslichen, kaum vorstellbaren Gräueltaten der Nationalsozialisten, bildet sich ein empathischer und höchst differenzierter Blick auf Handlungen und Handlungsspielräume, entwickelt sich ein vernunftbegabtes Gefühl für mitmenschliche Gewissensstärke ebenso wie für die menschenverachtende Gewissenlosigkeit der NS-Zeit. Die längerfristige und ernsthafte Beschäftigung mit konkreten Beispielen des (un)menschlichen Handelns unter repressiven Zwangsbedingungen führt zum sogenannten „Widerstandswissen“, zur reflektierten und couragierten Haltung gegenüber aktuellen Gefahren und Bedrohungen unserer Demokratie, zur Entstehung von Netzwerken der Erinnerungskultur, aber auch für demokratie- und menschenrechtspolitisches Engagement.

Geschichte begreifen braucht erzählte Geschichten

Die mittlerweile unzähligen Gedenkinitiativen in Österreich repräsentieren somit eine „neue Erinnerungskultur“. Diese verknüpft empathisches und sensibles Gedenken mit dem Anspruch der demokratischen und menschenrechtlich fundierten Gewissens- und Herzensbildung. Im „best case“, wenn seriöse wissenschaftliche Recherche, reflektierte Dialogkultur, Vertrauen, Meinungs- und Denkfreiheit sowie menschenfreundliche und liberal-weltoffene Haltungen innerhalb der Gruppe herrschen, entstehen Sinn und Wert dieser Gedenkprojekte für die Lösung aktueller Probleme und zum differenzierten Verständnis für brennende Fragen unserer Zeit. Kurzum: Mit dem Hinweis auf sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden oder auf über 70 Millionen Kriegstote lassen sich die skizzierten Prozesse der Persönlichkeitsbildung nicht generieren. Die Geschichte als Wissenschaft betrieben, braucht im Alltagstest ihrer Anwendung unverzichtbar die erzählten persönlichen Geschichten aus verschiedenen Perspektiven, v.a aus jener der Opfer! Wir schürfen beim „neuen Erinnern“ nach den Geschichten der Opfer, der couragierten Helfer, der enthemmten Täter, der applaudierenden sadistischen Claqueure, der feigen Mitläufer, der Heerschar an Teilnahms-, Interesse- und Herzlosen.

Handlungsspielräume in ihren Graustufen erkennen und nutzen lernen!

Wir befragen das zutage Geförderte aus interdisziplinärer Perspektive, um Konturen eines nützlichen Gesamtbildes des Handelns unter Zwangsbedingungen zu erhalten. Dieses stets unvollendete Gesamtbild lässt jenes differenzierte Handlungsrepertoire bei sich selbst entstehen, das mehr ist als nur ein Nachbeten von oberflächlichen Parolen. Gelebte Reflexivität, Dialogizität, interdisziplinäre Wissenschaftlichkeit und das vielschichtige Fokussieren eines „Graustufenkontinuums“ möglicher und tatsächlich genutzter Handlungsspielräume zwischen „Mord versus couragiertes Handeln für die Mitmenschlichkeit“ machen das „neue Erinnern“ zur überlebenswichtigen Kompetenz für die Zukunft unserer Gesellschaft. Die Einlösung dieses hohen Anspruchs gelingt freilich weder immer, noch gelingt es je gänzlich. Individuelle und kollektive Handlungsmuster sind nie vor Stagnation und Regression gefeit, verfügen über die Form eines unvollendbaren Puzzles! Doch entwickelt sich mit jeder neuen Gedenkinitiative wie jener in Weyer, an der sich in der Projektphase Dutzende engagierte Persönlichkeiten und bei der Enthüllung rund 150 BürgerInnen aktiv beteiligt haben, die Demokratie- und Menschenrechtskompetenz schrittweise weiter. Dialogisch umgesetzte Erinnerungsprojekte machen demokratiepolitische Haltungen wind-, hagel- und wetterfest. Dies erfolgt u.a durch die Übernahme von arbeitsintensiven Rollen im Gedenkprojekt: wissenschaftliche Recherche, Vermittlung des Forschungsstandes, Interviewführung, gestalterische Arbeiten, musikalische, literarische und künstlerische Annäherungen an das Thema, Konfliktlösung, Konsensfindung, die Knochenarbeit des Projektmanagements u.v.m. schärfen den visionären Spirit für die vielfältigen Ziele des „neuen Erinnerns“. Die Montage von Gedenktafeln oder die Errichtung von Mahnmälern allein – also ohne langfristig angelegte intergenerative Bürgerbeteiligungsprozesse – sind jedenfalls unzureichend für die Etablierung eines breit getragenen Bewusstseins für die vielfältigen Wirkungen der Verschränkung von Erinnerungsarbeit mit Demokratie- und Menschenrechtsbildung.

Netzwerke einer neuen Erinnerungskultur in Österreich

Die Gedenkinitiative des Vereins Frikulum in Weyer reiht sich ein in eine lose strukturierte Gedenklandschaft einer neuen Erinnerungskultur in Österreich, die u.a. vom Vermittlungsnetzwerk www.erinnern.at, vom Österreichischen Mauthausenkomitee und von den drei Opferverbänden – dem KZ-Verband, dem Verband sozialdemokratischer Freiheitskämpfer sowie von der ÖVP Kameradschaft der politisch Verfolgten und Bekenner Österreichs – unterstützt und zusammengehalten wird, ohne freilich die Autonomie der lokalen und regionalen Gedenkinitiativen einzuschränken, sondern diese bestmöglich zu unterstützen! In der Steiermark etwa entstanden zum Todesmarsch der ungarischen Jüdinnen und Juden 1945 u.a. Mahnmäler und Gedenkzeichen am Präbichl bei Eisenerz, in den Gemeinden Gleisdorf und Nitscha, vertieft jeweils durch wissenschaftliche Buchpublikationen, Bildungsveranstaltungen, Geschichtswerkstätten und Medienberichte. Das im CLIO Verlag erschienene Standardwerk „Orte und Zeichen der Erinnerung“ vermittelt einen exzellenten und bilderreichen Überblick über die Erinnerungsorte und Erinnerungszeichen an die Opfer des NS-Terrors und des 2. Weltkrieges in der Steiermark.

Link zum CLIO Verlag

Kooperationen beim „neuen Erinnern“ entlang der steirisch-oberösterreichischen Eisenstraße

Mit den Freunden aus Weyer verbindet mich bzw. unsere ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus eine jahrelange bundesländerübergreifende Zusammenarbeit. Auf Initiative von Mag. Robert Gradauer und Dr. Adi Brunnthaler präsentierten wir an der HLW Weyer unsere Wanderausstellung „Der Koffer der Adele Kurzweil“. Am 16. Juni 2004 rahmte der Chor der HLW Weyer die Enthüllung des Eisenerzer Todesmarschmahnmales am Präbichl mit musikalischen Darbietungen. Einige Jahre danach besuchten wir die oberösterreichische Gedenkinitiative in der Diepoldsau zur Zwangsarbeit während der NS-Zeit. Im Jahr 2005 präsentierten wir die im CLIO-Verlag erschienene Buchpublikation „Todesmarsch Eisenstraße 1945“ zeitgleich im Museum Arbeitswelt Steyr und im Eisenerzer Kammerhof.  Die Enthüllung der Gedenktafel des Vereins Frikulum für die jüdischen Opfer des Todesmarsches 1945 in Kastenreith bei Weyer am 11. Mai 2019 bildet nun eine weitere schöne Etappe in unserer bundesländerübergreifenden Gedenkarbeit.

Friedensnobelpreisträger 2012: Europäische Union

Ich nutzte die wunderschöne Anreise von Graz über den Präbichl entlang der Eisenstraße und des Ennstals, um die herzliche Begegnung mit den Freunden aus Weyer der 5. Etappe der Tour „Europa. In Vielfalt geeint“ zu widmen. Wir wollen dabei auf vielfältige Weise im Dialog mit den BürgerInnen für die aktive Wahrnehmung des Wahlrechts zur Europawahl am 26. Mai 2019 werben, für politische Bildung und für ein demokratie- und europapolitisches Engagement. Die Europäische Union – Friedensnobelpreisträger 2012 – verdankt ihre Gründung bekanntlich der ewigen Mahnung der Opferverbände: „Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg!“ Die jüdischen Opfer der Todesmärsche des Jahres 1945 – stellvertretend für den gesamten Holocaust und für alle weiteren Opfer des NS-Terrors – mögen uns stets in Erinnerung rufen, dass die Verdienste der Europäische Union für Demokratie, Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Wohlstand und europäische Zusammenarbeit unverzichtbar und von uns Bürgerinnen und Bürger stets aufs Neue zu erbringen sind. Noch so viel nachvollziehbarer Ärger oder bittere Enttäuschung über die EU sollten uns jedoch nie dazu verleiten, den Weg zurück ins 20. Jahrhundert – ins „Zeitalter der Extreme“ zu nehmen, wie Eric Hobsbawm die Epoche des millionenfachen industriellen Massenmordes auf den Punkt brachte.

Christian Ehetreiber, gewidmet meinem Freund Robert Gradauer

 

 Links:

Gesamtverzeichnis des CLIO Verlages

Zeitzeugengespräche zum Todesmarsch ungarischer Juden 1945

Vermittlungsplattform erinern.at zum Stichwort Todesmarsch

Mauthausen Komitee Österreich

BLOG der ARGE Jugend zum Stichwort Todesmarsch