Die Krise der Demokratie in Ungarn und Polen aus historischer Perspektive

Vor fast 100 Jahren erlebte die Demokratie in Europa ihren ersten großen Sonnenaufgang. Nach dem Ersten Weltkrieg lösten demokratische Regierungen in weiten des Kontinents die alten Monarchien ab. In den meisten Fällen hielten sie sich nicht lange. Als Hitler in Deutschland an die Macht kam, gab es in Europa kaum noch Demokratien. Sie zerbrachen nicht an äußeren Feinden, sondern an autoritären Strömungen im eigenen Land. Dieser historische Befund gilt auch für Polen und Ungarn, die aktuellen demokratiepolitischen Sorgenkinder der EU.

In Ungarn hielt sich der erste demokratisch gewählt Präsident nur drei Monate an der Macht, bevor er im März 1919 der kommunistischen Rätediktatur weichen musste. Auf den Kommunismus folgte bald eine diktatorische Regierung mit faschistischen Zügen, die von Miklós Horthy als Reichsverweser geführt wurde. Horthy kämpfte im Zweiten Weltkrieg auf der Seite Hitlerdeutschlands, überwarf sich jedoch mit Ende 1944 mit Hitler und wurde abgesetzt. In der kurzen Phase zwischen Horthys Absetzung und dem Einmarsch der Roten Armee regierten die offen faschistischen Pfeilkreuzler und halfen der SS beim Massenmord an den ungarischen Juden.

Polen driftete im Jahr im Mai 1926 nach einem Militärputsch in die Diktatur ab. Anders als in Ungarn hielt sich der starke Mann Polens, Marschall Józef Piłsudski, im Hintergrund. Formal blieben demokratische Elemente bestehen. Es kam sogar zur Abhaltung von Wahlen. Diese waren jedoch alles andere als frei. Das Parlament hatte außerdem kaum Macht und die Verhaftung von Abgeordneten war keine Seltenheit. Bis 1935 blieb die demokratische Verfassung in Kraft, danach wurde sie von einer autoritären Verfassung abgelöst. Regierungsvertreter sprachen dabei von einer moralischen Diktatur, die zu einer „Gesundung“ des Landes führen sollte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg zerschlugen sich in Polen und Ungarn schnell alle Hoffnungen auf eine Rückkehr der Demokratie. Beide Länder blieben bis 1989 kommunistische Diktaturen. Nach dem Ende des Kommunismus setzte sich die Demokratie erneut durch und schließlich traten sowohl Polen als auch Ungarn 2004 der EU bei. Doch von einem „Ende der Geschichte“ kann keine Rede sein. Vielmehr scheint eine Rückkehr zur Diktatur im Bereich des Möglichen. Aktuell werden in beiden Ländern die Grundpfeiler der liberalen Demokratie angegriffen. Es kommt zur Einschränkung der Pressefreiheit, zur Beschneidung der Verfassungsgerichte und zum Kampf gegen alle, die sich den Herrschenden entgegenstellen. Diese sehen sich durch den bei den Wahlen zum Ausdruck gebrachten „Volkswillen“ dazu legitimiert, den Staat in ihrem Sinne umzugestalten und nicht gewählte Vertreter wie Verfassungsrichter, NGO-Vertreter und Medieninhaber zu drangsalieren. Ungarn und Polen entfernen sich damit immer weiter vom europäischen Demokratieverständnis. Dabei orientieren sich sowohl die Machthaber Ungarns als auch Polens an Vorbildern der Zwischenkriegszeit.

Parallelen zur Zwischenkriegszeit

In Ungarn ist vor allem die Verehrung, die Miklós Horthy unter der Regierung Orban erfährt, ein eindeutiges Zeichen dafür. Noch 2002 hatte die Mehrheit der Ungarn ein negatives Bild von Horthy. Mittlerweile hat sich dieser Trend umgekehrt. In zahlreichen ungarischen Gemeinden wurden Plätze und Straßen nach dem Diktator benannt. Orban selbst nannte Horthy einen „Ausnahmestaatsmann“ im positiven Sinne. Wie dieser erhebt Orban die Nation und ihre traditionellen Werte zum wichtigsten Anker des ungarischen Staates. In gewisser Weise erinnert auch die Kampagne der Regierungspartei Fidesz gegen den ungarisch-jüdischen Milliardär George Soros und die von ihm finanzierte Universität CEU mit ihrem latenten Antisemitismus an die Horthy-Zeit. Für Horthy stellten die Juden eine Gefahr für die ungarische Kultur dar. Orban möchte die CEU, einen Hort des Liberalismus, der sich seiner Kontrolle entzieht, aus ähnlichen Gründen des Landes verweisen. Unter anderem deshalb lässt Ungarns Regierung gerade ohne gesetzliche Grundlage eine Volksbefragung über einen angeblichen „Soros-Plan“ durchführen. Fragen wie „Unterstützen sie Soros darin Brüssel zu überzeugen mindestens eine Million Migranten pro Jahr aus Afrika und dem Nahen Osten auf das Gebiet der Europäischen Union umzusiedeln“ dienen dazu die Öffentlichkeit gegen Soros, die EU und die CEU aufzuhetzen. Orban benutzt dabei bewusst historische Feindbilder.

Parallelen zur autoritären Vergangenheit sind auch in Polen erkennbar. Vor allem die Herrschaftspraxis des mächtigsten Mannes im Staat, Jarosław Kaczyński, erinnert an die Zwischenkriegszeit. Wie damals Piłsudski bekleidet er das formell wichtigste Amt Polens nicht selbst, sondern zieht im Hintergrund als Vorsitzender der Regierungspartei die Fäden. Die Premierministerin Beata Szydło gilt als Marionette von Kaczyński. Eine weitere Parallele zwischen und Kaczyński ist ihre Ablehnung des Liberalismus. Wie schon zu Zeiten von Piłsudski „Gesundung“ setzt er auf Werte wie Volk, Familie und Kirche, die für ihn über der liberalen Demokratie stehen. Stützen kann er sich dabei auf den in Polen fest verwurzelten Nationalstolz und einen starken Katholizismus. In Puncto Vergangenheitsbewältigung, muss er was Piłsudski betrifft, keine Wende einleiten. Der Marschall gilt in Polen als Nationalheiliger. Seine zweifellos großen Verdienste um die polnische Unabhängigkeit und sein Einsatz zur Verteidigung Polens gegen die Sowjetdiktatur im Jahr 1920 überstrahlen bis heute die Tatsache, dass er die junge Demokratie ab dem Jahr 1925 Schritt für Schritt ausschaltete.

Trotz aller Parallelen ist die Situation nicht so dramatisch wie in der Zwischenkriegszeit. Anders als damals gibt es heute eine zahlenmäßig starke kritische Öffentlichkeit, die nicht bereit ist zu schweigen und den Demokratieabbau widerstandslos hinzunehmen. Außerdem reagiert die EU, wenn auch manchmal nur spät und zaghaft, auf alle demokratiepolitischen Verstöße in Ungarn und Polen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der autoritäre Umbau in beiden Ländern ohne die EU-Mitgliedschaft noch stärker betrieben werden würde. Polen und Ungarn sind (noch) keine Diktaturen. Im Hinblick auf die autoritären Tendenzen ist jedoch Besorgnis angebracht. Vor Orban und Kaczyński muss man sich als Verfechter der liberalen Demokratie genauso in Acht nehmen, wie vor jenen Politikern im eigenen Land die für sie Verständnis oder sogar Bewunderung äußern. Die Demokratie ist auch im Jahr 2017 nichts Selbstverständliches, sondern bedarf unserer ständigen Wachsamkeit.

 

Martin Amschl