Steirisches Gedenknetzwerk erobert Europa!

Leitfaden „Neue Erinnerungskultur mit Zukunft“ entsteht

„Wir wollen die ambitionierten steirischen Gedenkprojekte, die den Opfern des Faschismus ein würdevolles Andenken bewahren, als steirisches Netzwerksprojekt in einen Europäischen Kontext stellen!“ Mit diesen Worten eröffnete ARGE-GF-Obmann Christian Ehetreiber die Geschichtswerkstätte „Zukunftsbezogene Erinnerungskultur in der Steiermark“. 30 Gäste bzw. ExpertInnen einer neuen steirischen Erinnerungskultur zum Zeitraum 1933 bis 1945 folgten der Einladung der ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus am 13.12.2016 ins Grazer Jugendgästehaus. Die ARGE Jugend arbeitet seit Mitte der 1990er Jahren in verschiedenen Rollen an der Initiierung, Umsetzung und Begleitung von regionalen Gedenkinitiativen mit, woraus eine Kultur vertrauensvoller Zusammenarbeit gewachsen ist. Link zur „Gedenklandkarte Die andere Steiermark“ mit einer Auswahl an steirischen Gedenkzeichen:

http://www.argejugend.at/2015/12/gedenklandkarte-die-andere-steiermark-ein-meilenstein/

„Leitfaden Erinnerungskultur“: Ein Hebel zur Bergung von white spots

Gemeinsam mit dem „Steirischen Gedenknetzwerk“ wird bis April 2017 der praxistaugliche Leitfaden “Neue Erinnerungskultur mit Zukunft. Wege zu intergenerativen Erfolgsprojekten mit BürgerInnenbeteiligung” (Arbeitstitel) gemeinsam entwickelt. Ziel dieses Leitfadens ist es, neuen Gedenkinitiativen die im Steirischen Gedenknetzwerk entstandene Expertise in praxistauglicher Form zur Verfügung zu stellen. „Lohnende white spots in der Gedenkarbeit gibt es immer noch, die von regionalen Initiativen bearbeitet werden können. Der Leitfaden soll dazu motivieren und Praxistipps für die Umsetzung bereitstellen,“ so ARGE-Projektleiterin Mag. Bettina Ramp zum Kernanliegen des Leitfadens.

Gedenkprojekte als Medien für „Demokratiebildung“

Dabei geht es nicht nur um die zeitgeschichtliche Dimension, sondern immer auch um zukunftsbezogene „Demokratie- und Menschenrechtsbildung“, welche ihre Reflexionsfolie aus der NS-Zeit wie auch aus aktuellen europäischen Erscheinungsformen von politischem Extremismus entwickelt. Gedenkinitiativen eignen sich – abgesehen vom Zweck des würdevollen Gedenkens an die Opfer – bestens, um die BürgerInnen aller Generationen für den Wert von Menschenrechten und Demokratie zu sensibilisieren. Nähere Informationen zu diesem Projekt: Mag. Christian Ehetreiber, 0664/311 49 54 oder christian.ehetreiber@argejugend.at

Widerstand gegen das NS-Regime: Lange Zeit im Widerstand zum politischen Mainstream

„Die meisten Gedenkprojekte zum Zeitraum 1933 bis 1945 entstanden im Widerstand zum politischen Mainstream und wurden von sogenannten Außenseitern initiiert,“ vermerkte der Grazer Historiker Mag. Franz Stangl, der bei zahlreichen steirischen Gedenkprojekten seine Expertise einbrachte. „Jahrzehntelang wurden die Themen Widerstand und Verfolgung während des Austrofaschismus bzw. während der NS-Zeit systematisch ausgeblendet. Der wohlfeile Mythos der (vermeintlichen!) Stunde null und die Berufung auf die Moskauer Deklaration der Alliierten[1] aus dem Jahre 1943, wonach Österreich das erste Opfer „der typischen Angriffspolitik Hitlers“ gewesen sei, erlaubten dem offiziellen Österreich die unreflektierte Flucht in die Opferrolle,“ resümierte Christian Ehetreiber, GF-Obmann der ARGE Jugend und Initiator zahlreicher Gedenkprojekte in der Steiermark, die jahrzehntelang gültige Staatsdoktrin vom „ersten Opfer“ des Hitlerfaschismus, ohne die Täterrolle ernsthaft zu reflektieren. Die daraus entstandene Mixtur aus „Verdrängen und Vergessen“ bildete eine meist defensive, mitunter aggressive Abwehrhaltung der Mehrheitsbevölkerung gegenüber Fragen der österreichischen Mitverantwortung an den NS-Gräueln.

Waldheims Berufung auf „Pflichterfüllung in der Deutschen Wehrmacht“

Erst nach den Affären „Frischenschlager/Reder“[2] 1985 und „Kurt Waldheim“ 1986 stürzte das politische Gebäude des Verdrängens und Vergessens ein, unterstützt von einer kritischen HistorikerInnen- und JournalistInnengeneration, welche die widersprüchlichen Narrative – einerseits Betonung der Opferrolle, andererseits „Wir haben den Krieg verloren“ – nicht mehr widerspruchslos akzeptierte. In den 1990er Jahren entstanden zahlreiche Publikationen und Gedenkprojekte, welche die ambivalenten Verstrickungen Österreichs in das NS-Regime präzise erarbeitete und dabei auf die Opfer des NS-Regimes und auf die mutigen antifaschistischen Widerstandskämpfer stieß. Rund drei Jahrzehnte nach der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten sind auch in der Steiermark zahlreiche Publikationen und Gedenkprojekte auf Grundlage beherzter kommunaler Initiativen entstanden, die – in den Worten des Historikers DDr. Werner Anzenbergers – „heute in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind“.

„Glücklich ist, wer vergisst…“?

Der Klagenfurter Sozialpädagoge Univ.-Prof. Dr. Peter Gstettner, selbst Initiator und Berater vieler österreichischer Gedenkinitiativen, konstatierte in seinem Referat „Zukunftsbezogene Erinnerungskultur“ dass die wohlfeile Exkulpierung Österreichs mit Berufung auf Johann Strauß´ „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist,“ im 21. Jahrhundert nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Die insgesamt rund 30 Gäste aus steirischen Gemeinden mit Erinnerungs- und Gedenkprojekten für eine andere Steiermark, die Zeitgeschichte konsequent aus der Opferperspektive fokussiert, repräsentieren den Kontrapunkt zum „Glücklich ist, wer vergisst.“ Der „Widerspruch der einst Widerspruchslosen“ kann heute kaum mehr auf breite Akzeptanz hoffen.  Peter Gstettner fokussierte die humanozentrische Tiefenstruktur der Erinnerungsarbeit: die Angst jedes Menschen, im Ausnahmezustand und isoliert zum Opfer von Gewalt zu werden, ohne dass solidarische Hilfe verfügbar ist:

„Die Abwehr gegen unsere Erinnerungsarbeit, die wir etwas hochtrabend, aber durchaus zeitgemäß, zur Erinnerungskultur erheben, kommt wahrscheinlich auch daher, dass unsere Arbeit mit dieser diffusen Angst besetzt ist, und dass wir, um der Zukunft Willen, solchen angstbesetzten Ahnungen auch einen Raum für Aussprache und Reflexion geben. Es sind existentielle Vermutungen über grundlegende menschliche Handlungsmöglichkeiten, wenn wir darüber nachdenken und sprechen, wie das damals war und ob es wieder geschehen kann, ob wir es wieder zulassen würden, dass der einzelne Mensch nichts wert ist, dass er seiner Persönlichkeit und seiner Würde beraubt wird, dass er zu einem Ding, zu einem Gegenstand, zu einer Nummer gemacht wird, dass er der Vernichtung preisgegeben wird, dass seine Existenz spurlos ausgelöscht und buchstäblich in Rauch aufgelöst wird, und dass ihm angesichts seiner Einsamkeit und Verzweiflung nichts und niemand zu Hilfe kommt.“

Die von Gstettner benannte „diffuse [und zugleich reale!] Angst“ verknüpft den NS-Terror mit dem Massenmord in Ruanda oder im Sudan, die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien mit dem aktuellen Gemetzel zwischen Aleppo und Kabul, die Gräueltaten von Einst und Jetzt! Erinnern heißt daher: über die mühselige Aneignung von Vergangenheit einen Blick in eine bessere Zukunft zu erhaschen!

Links:                                       

Informationen zur Geschichtswerkstatt am 13.12.2016

https://issuu.com/arge_jugend/docs/zukunftsbezogeneerinnerungskulturpe

Website zum steirischen ZeitzeugInnenschatz

www.generationendialog-steiermark.at

Netzwerksprojekt „Gedenklandschaft Die andere Steiermark

Projekt Gedenklandschaft Die andere Steiermark

Plattform zur österreichischen Erinnerungs- und Gedenkkultur

www.erinnern.at

Website des Grazer CLIO-Verlages mit zahlreichen Publikationen zu Austrofaschismus und NS-Zeit

http://www.clio-graz.net/

[1] In der Moskauer Deklaration 1943 hieß es: „Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, dass Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll.“

[2] Der damalige österreichische Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager empfing 1985 den zu lebenslanger Haft verurteilten und vorzeitig entlassenen NS-Kriegsverbrecher Walter Reder als „letzten Kriegsgefangenen“.