Es war einmal… über Lucky Luke als Nichtraucher und Rotkäppchen mit einem Gewehr

Wie Märchen uns beeinflussen

Durch Metaphern und stereotype Bilder haben Märchen schon immer den Alltag erklärt, auf Regeln, Normen und Sanktionen hingewiesen, uns die Welt aber auch verschönert – sei es in Helden- oder Prinzessinnenerzählungen. Literatur erschafft und bestätigt also in einem gewissen Sinne soziale Wirklichkeit. Zwei konträre Strömungen in der Kinderliteratur widmen sich zurzeit dem Einfluss von Märchen, jedoch mit unterschiedlichen Zielsetzungen.

Political Correctness

In den Märchen des letzten Jahrhunderts war der Alltag scheinbar ein anderer als in aktuellen Erzählungen. Arme ernährten sich von Brot, Reiche von reichlich Fleisch und Wein, Kinder waren oft auf sich alleine gestellt (Hänsel und Gretel wurden ja von ihren Eltern ausgesetzt), waren sie „schlimm“, wurden sie zu Mehl vermahlen (siehe Max und Moritz) oder vom Wolf gefressen (man erinnere sich an Rotkäppchen), um nur einige wenige Stereotype zu erwähnen. Etwas abgeschwächter waren da schon Märchen und Kinderserien der 70er und 80er Jahre: Erwachsene machten es sich wie Meister Eder bei einem Krug Bier gemütlich, rauchten Zigarren oder Zigaretten. Kinderstreiche veränderten sich von bösartig zu tollpatschig (siehe Karlsson vom Dach) und Strafen für Kinder reduzieren sich auf Hausarrest oder schlimmstenfalls einen Internatsaufenthalt, welche sich oft als spannend oder lehrreich herausstellten (man denke an die Abenteuer von Hanni und Nanni).

Nun wird der Hausarrest zum Fernseh- und Computerentzug, das Wurstbrot der Jause wird durch einen Apfel ersetzt, das Glas Bier durch Limonade, Lucky Luke kaut nun an einem Grasstängel und rauchen sieht man, wenn überhaupt nur die Bösewichter – die gibt es allerdings noch, muss die Welt doch irgendwie in Gut und Böse geteilt werden. Auch sprachlich hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges getan –Bezeichnungen wie Weib, Neger, Liliputaner, etc. werden durch politisch korrekte Begriffe ersetzt. Trotzdem verlieren die Erzählungen keinesfalls an ihrem Charakter – die Fantasie anzuregen und subtil die Gesellschaft zu erklären und vor allem auf Sensibilität im Umgang mit gewissen Phänomenen/Personen zu achten.

Und wenn sie nicht gestorben sind…

In den USA wiederum erleben Märchen einen entgegengesetzten Trend. Der Waffenverband NRA hat nun berühmte Erzählungen wie Hänsel und Gretel oder Rotkäppchen umschreiben lassen. Die Geschichten sind unter dem Titel „Growing patriots“ (Website wurde vorübergehend abgeschaltet) zusammengefasst. Dabei tragen die Kinder als Schutz Gewehre, um sich verteidigen zu können. Außerdem können sie sich alleine im Wald auch noch von ihnen erlegten Tieren ernähren. Die Autorin Amelia Hamilton, die die Märchen adaptiert hat, möchte dabei vor allem auf den Sicherheitsaspekt von Waffen hinweisen und darauf, dass sich die Gewaltsituationen in den Märchen durch die Anwesenheit von Gewehren vermeiden ließen.

Dennoch mehren sich in den USA die Fälle von Gewaltakten, in denen Kinder verwickelt sind – eine Junge erschießt seine Mutter, die noch stolz über die Fähigkeiten ihres Sohnes im Umgang mit Kleinkalibern gepostet hat, ein Elfjähriger erschießt eine Achtjährige, weil sie ihm nicht ihren Hund zeigen möchte, ein Zweijähriger erschießt seine Mutter im Supermarkt, weil er ihre Waffe in ihrer Handtasche findet, usw.

Diese Fälle zeigen eindrucksvoll, dass ein Mittragen von Waffen keine Sicherheit darstellt, sondern das Gegenteil damit erreicht wird. So wäre es wohl um Einiges effektiver, über Märchen zu transportieren, die Großmutter mit den großen Augen, Ohren und Mund mit Respekt zu behandeln, anstatt diese aufgrund ihrer Äußerlichkeiten und Äußerungen zu erschießen. Mehr denn je liegt es nun in der Verantwortung der Eltern/Pädagog_innen/Multiplikator_innen, über die Erziehung ein Bewusstsein für Werte, aber auch Illusionen zu schaffen. Besonders bei Märchen sollte man vorher zwei Mal hinsehen – worüber sie handeln und von wem sie wie adaptiert wurden.

… dann leben sie friedlich miteinander

Gewaltprävention ist von jeher das Credo der ARGE Jugend gegen Gewalt und Rassismus, denn dann muss die Frage der Gewalt als Verteidigung gar nicht mehr gestellt werden. Ein gemeinsames Zusammenleben braucht zwar Sanktionen, aber nicht in Form von Gewalt und falsch gedachter Sicherheit wie dem Einsatz von Waffen in Kindererzählungen. Sollten Sie Informationen, Lehr- oder Lernmaterial zu gewaltpräventiven Inhalten benötigen, können Sie sich gerne an das Team der ARGE Jugend wenden. Außerdem bieten wir Beratungen und maßgeschneiderte Workshops an – blättern Sie hierfür in unserem aktuellen Katalog! B.S.

Artikel zum Thema:

Die Zeit über die Märchen-Neufassungen der NRA

Orf.at: Was sich in Märchen verändert hat

Kleine Zeitung: Waffenlobby-Fassung von Märchen

Wie Gewalt in Märchen auf Kinder wirkt