Das Brexit-Chaos und seine Vorgeschichte

Nun will Theresa May also doch mit der Opposition reden. Dieses Einlenken im Brexit-Streit soll einen ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU und dessen aller Voraussicht nach beträchtliche Konsequenzen abwenden. Der Versuch einen parteiübergreifenden Kompromiss zu schließen ist die neueste der unzähligen Wendungen im größten politischen Drama der jüngeren britischen Geschichte. Selbst die besten Analysten wagen keine Prognosen mehr darüber abzugeben, wann, wie und ob das Vereinigte Königreich aus der EU austreten wird. Im Dickicht der sich überschlagenden Ereignisse ist es für den durchschnittlichen politischen Beobachter kaum mehr möglich den Überblick zu behalten. Wie immer ist in solchen Fällen ein Blick auf die Geschichte hilfreich.

2015:
Das Drama des Brexit nahm im Vorfeld der britischen Unterhauswahlen 2015 seinen unheilvollen Anfang. Der damalige konservative Premierminister David Cameron stand vor der Herausforderung seine zerstrittene Partei, die von der rechtspopulistischen und EU-feindlichen UKIP vor sich her getrieben wurde, zu einen. Die Konservativen waren in der Frage eines EU-Austritts gespalten. Um das Problem zu lösen versprach Cameron im Falle eines Wahlsiegs, eine Volksabstimmung über den Austritt aus der EU abzuhalten. Er selbst war für den Verbleib und rechnete nicht damit, dass eine Mehrheit der Briten aus der EU austreten wollte. Alle Warnungen wonach er ein unberechenbares und gefährliches Spiel begonnen hätte, schlug er in den Wind.

Die Wahl wurde dann wider Erwarten zum großen Triumph für Cameron und die Konservativen. Dank des britischen Wahlrechts reichte eine moderate Stimmensteigerung aus, um die absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus zu gewinnen. Nun gingen die Konservativen daran ihr Wahlversprechen einzulösen. Für den 23. Juni 2016 wurde eine Volksabstimmung über den Verbleib in der EU angesetzt. Ein kaum beachteter Nebeneffekt der Unterhauswahl war der Rücktritt des Vorsitzenden der oppositionellen Labour Party. Das Rennen um seine Nachfolge machte mit Jeremy Corbyn ein bis dahin kaum bekannter linker Außenseiter.

2016:
In den Monaten vor der Abstimmung rechnet kaum jemand damit, dass eine Mehrheit der Bevölkerung für den Austritt stimmen könnte. Noch im Mai gab es kaum Umfragen, die den Vorsprung für das Remain-Lager unter fünf Prozent bezifferten. Beinahe das gesamte politische Establishment stellte sich auf die Seite der Brexit-Gegner. Am ehesten waren noch die Konservativen gespalten. Premierminister Cameron sprach sich zwar vehement für den Verbleib in der EU aus, konnte jedoch nur ca. zwei Drittel seiner Parlamentsfraktion für diesen Kurs gewinnen. Die oppositionelle Labour Party war fast geschlossen gegen den Brexit. Ihrem Vorsitzenden Corbyn wurde jedoch vorgeworfen nicht mit dem nötigen Enthusiasmus für den Verbleib in der EU zu kämpfen. Von den anderen relevanten britischen Parteien war naturgemäß nur UKIP für den EU-Austritt.

Beinahe unbemerkt formierte sich jedoch das Lager der Brexit-Befürworter vor allem in den sozialen Medien. Massive Desinformationskampagnen verunsicherten die britische Bevölkerung. Am stärksten verfing die nachweislich falsche Behauptung, wonach das Vereinigte Königreich wöchentlich 350 Millionen Pfund an die EU überweisen würde. Unter dem Schlagwort „I want my country back“ operierten die Brexit-Befürworter auch mit fremdenfeindlichen Behauptungen und Stereotypen. Am Wahlabend wurde schnell klar, dass diese Strategie vor allem in den ehemaligen Industriegegenden im Norden Englands von Erfolg gekrönt war. Letztlich stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Brexit. Während in England und Wales eine Mehrheit für den Austritt votierte, sprachen sich Schottland und Nordirland für den Verbleib in der EU aus. Generell zeigte sich im gesamten Vereinigten Königreich ein starkes Nord-Süd-Gefälle sowie ein Gegensatz zwischen dem ländlichen Raum, der Pro-Brexit eingestellt war und den großen Städten, die mehrheitlich für den Verbleib in der Europäischen Union votierten. David Cameron zog die Konsequenzen aus dem Abstimmungsergebnis und trat zurück. Die Folgen seines fehlgeschlagenen Spiels mussten nun andere tragen.

2017:
Nachdem sich der erste Schock über das Abstimmungsergebnis gelegt hatte, ging die britische Regierung daran, die Brexit-Modalitäten zu klären. Bis 29. März 2019 sollte Großbritannien aus der EU ausscheiden. Verantwortlich dafür war Theresa May, eine Brexit-Gegnerin, die zur neuen Premierministerin gewählt worden war. Um sich eine möglichst breite Mehrheit für die Verhandlungen mit der EU zu sichern, rief May Neuwahlen aus. Dabei hatte sie auch die Schwäche der Labour Party im Blick. In dieser hatte Jeremy Corbyn zwar die Mehrheit der Mitglieder jedoch nur eine kleine Minderheit der Parlamentarier hinter sich. May riskierte also wie Cameron zuvor eine nicht zwingend notwendige Wahl um ihre Position zu stärken. Wie ihr Vorgänger sollte sie sich dabei allerdings grob verschätzen.

Jeremy Corbyn erwies sich als unerwartet starker Gegner für May. Unter dem Slogan „For the many, not the few“ setzte er im Wahlkampf voll und ganz auf das Thema Verteilungsgerechtigkeit. Forderungen nach der Rückverstaatlichung der Eisenbahn und höheren Steuern für Reiche, trafen im von 30 Jahren Neoliberalismus gezeichneten Großbritannien einen Nerv. Obwohl die Labour Party fast alle großen Medien gegen sich hatte, gelang es ihr die Menschen mit dieser dezidiert linken Programmatik anzusprechen. So endete die Wahl mit einer gewaltigen Überraschung. Mays Konservative blieben zwar stärkste Partei, verloren jedoch die absolute Mehrheit. Lediglich mithilfe der nordirischen Democratic Unionist Party konnte sich die Premierministerin an der Macht halten. Ihre Position war jedoch schwer beschädigt.

2019:
Alle beschriebenen Ereignisse führten dazu, dass ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß an Chaos in der britischen Politik Einzug hielt. Der von Theresa May in mühevoller Kleinarbeit ausgehandelte Brexit-Deal wurde vom Unterhaus drei Mal abgelehnt. Die Abstimmungsniederlagen waren in ihrer Deutlichkeit die schwersten, welche eine britische Regierung seit den 1920er-Jahren hinnehmen musste. May grundlegendes Problem besteht darin, dass ihr Deal für viel Hardliner in ihrer Partei eine zu enge Anbindung an die EU vorsieht. Der Opposition ist das vorgesehen Verhältnis zur EU nicht nah genug. Abgesehen von einigen Brextremisten wollen jedoch alle einen Brexit ohne Deal, der verheerende Folgen für die britische Wirtschaft hätte, verhindern.

Da sich bis 29. März keine Einigung abzeichnete, wurde das Austrittsdatum auf den 12. April verlegt. In der Zwischenzeit hat sich das Parlament weitreichende Mitspracherechte gesichert. Acht verschiedene Varianten wurden dem Unterhaus schließlich zur Abstimmung vorgelegt. Keine Einzige fand eine Mehrheit. Die vier aussichtsreichsten sind am 1. April nochmals allesamt verworfen worden. Es spricht für den britischen Humor, dass nach der Verkündung der Abstimmungsergebnisse allgemeines Gelächter im Unterhaus ausbrach. Das Mutterland der Demokratie, steckt jedoch in einer ernsten Krise. Schadenfreude ist aufseiten der EU dabei jedoch kaum angebracht. Vielmehr sollten die Ereignisse jenseits des Ärmelkanals nachdenklich stimmen und zur Achtsamkeit mahnen. Der einzig positive Aspekt des Brexit-Desasters ist die steigende Zustimmung zur EU in den verbliebenen 27 Mitgliedsstaaten. Somit hat das Mutterland der Demokratie unbeabsichtigt dazu beigetragen, dass sich die Zerfallstendenzen innerhalb der Europäischen Union zumindest aktuell nicht weiter verstärken.

 

Martin Amschl