Überall Arbeitsscheue und Sozialschmarotzer?

Neoliberale Sommermärchen über Ein-Euro-Jobs, gekürzte Mindestsicherung, schärfere Zumutbarkeitsgrenzen und soziale Treffsicherheit

Mir fällt auf, dass die politische Diskussion permanent am unteren Rand fokussiert. Sind 800 Euro zuviel, müsste man mit 500 auskommen? Das fragen zumeist die, die solche Beiträge zum Abendessen mit Freunden ausgeben. Wenn Starbucks 2014 17,2 Millionen Euro Umsatz ausweist und 814 Euro (sic!) Steuern zahlt in Österreich, dann frage ich mich schon, ob das gerecht ist.

Caritas-Präsident Michael Landau im Gespräch mit Thomas Götz (Kleine Zeitung v. 5.9.2016)

Man muss die Leute, die jeden Tag früh aufstehen, um arbeiten zu gehen, im Blickfeld behalten. Man darf deren Solidarität nicht untergraben. Bundeskanzler Christian Kern, der sich Verschärfungen bei der Mindestsicherung vorstellen kann […], ganz eindeutig linke Positionen (sic!) besetzen [und] weiterhin rote Duftmarken (sic!) setzen möchte. (Kleine Zeitung v. 5.9.2016)

Ein Gespenst geht um in Europa…

Wieder einmal geht ein Gespenst um in Europa: der Sozialschmarotzer. Diese altbekannte Species wandere in die europäischen Sozialsysteme ein, sei mehrheitlich arbeitsscheu und leistungsfeindlich, gefährde Sozialbudgets ebenso wie Solidarität, Arbeitsmoral und sozialen Frieden. Die in diesen Debatten stets hervorgezauberte „Billa-Verkäuferin“ – allegorische Figur rechtschaffener Arbeitsmoral – verdiene ja oft weniger als Bezieher von Arbeitslosengeld oder Mindestsicherung! Dies schreie förmlich nach Anpassungen sozialer Leistungen, wie Kürzungen stets euphemisiert werden. Dass die billa-Verkäuferin besser entlohnt werden könnte, kommt nur noch wenigen in den Sinn. Kurzum: Der Sozialschmarotzer geistert durch den Blätterwald Europas und sitzt als willkommener virtueller Gast an Österreichs Stammtischen. Endlich wieder ein Sündenbock, dem jegliches Markt- und Politikversagen umgehängt werden kann. Dies ist deshalb so angenehm, da der Sozialschmarotzer keine echte Rolle in Politik, Wirtschaft und Medien spielt. Daher darf über ihn alles gesagt werden, ohne dass er vernehmbar widersprechen kann. Die Eliten sprechen naturgemäß immer über ihn, niemals mit ihm. Denn ein Gespräch auf Augenhöhe brächte vermutlich die Sakristei der eigenen Verblendungen zum Einsturz. Der Sozialschmarotzer hieße dann vielleicht ganz anders.

Stephan Schulmeister über Europas Weg in die neoliberale Depression

Stephan Schulmeister über neue Verführer mit alten neoliberalen Programmen

Überbordender Sozialstaat als Universal(v)erklärung allen Übels

Sozialschmarotzer und Arbeitsscheue erfüllen mittlerweile die Funktion einer Universalerklärung für alles Missglückte in Europa. Vom Budgetdefizit über die Erosion der Leistungsmotivation, die Reduktion des Volksvermögens bis zur Gefährdung unseres Gemeinwesens zeichnen Sozialschmarotzer und Arbeitsscheue verantwortlich. Ihr überreichliches Futter erhalten die Sozialschmarotzer und Arbeitsscheuen an den unerschöpflichen Quellen eines überbordenden Sozialstaates in Form von überzogenen Sozialleistungen, die Leistungsfeindlichkeit, Komfortzonendenken und Vollkaskomentalitäten fördern und zum Niedergang der einstmaligen Wirtschaftsmacht Europa beitragen. So simpel tönt es aus dem Munde neoliberaler Politik und ihrer Kammerdiener in Medienredaktionen und an Stammtischen.

Kürzungen von sozialen Leistungen als vermeintliches Allheilmittel

Daher gelte es, die Mindestsicherung zu kürzen oder zu deckeln, AsylwerberInnen zu Ein-Euro-Jobs zu verpflichten, Zumutbarkeitsgrenzen zu verschärfen, Arbeitsunwillige beim AMS anzuzeigen, das Arbeitslosengeld zu streichen und den Druck auf Arbeitslose und Arme ständig zu erhöhen. Was für ein erbärmliches Armutszeugnis für all diese politischen Kreuzritter der vermeintlichen Erhöhung sozialer Treffsicherheit! Mit parabelhafter Herrenmoral startet man eine Hatz auf Arbeitslose, statt Konzepte für Vollbeschäftigung in Europa umzusetzen, zugleich auch pfiffige Programme einer bestens dotierten Entwicklungspolitik mit den ärmsten Regionen der Erde zu realisieren.

Downingstreet Nr. 10: Heimstätte des Downsizens

In der Downing Street Nr. 10 keimte einmal mehr die uralte Drachensaat des sozialstaatlichen Downsizens. Der am Brexit zerbrochene David Cameron, wie bereits seine Vorgänger Gordon Brown und Tony Blair ein Totengräber sozialstaatlicher Politik im interfraktionellen Kampfanzug des neoliberalen Mobilmachers , machte vor einiger Zeit den Vorstoß für die aktuelle Runde im systematischen Erodieren von Sozialpolitik: Sozialleistungen mögen in Europa nur nach dem jeweiligen Niveau des Herkunftslandes – nicht nach den meist höheren Standards des Ziellandes – ausbezahlt werden.

EU knickte vor Camerons Forderung nach Notbremse bei Sozialleistungen ein

Der mittlerweile an seiner eigenen Partei gescheiterte Bundeskanzler Werner Faymann griff Camerons Vorstoß ebenso wie die Parteigranden der CSU und der ÖVP begierig auf und machte die britische Schnapsidee flugs zu einem europaweiten Exportschlager.

Werner Faymann offen für Kürzungen bei Familienbeihilfe

Mittlerweile gibt es bei Christlich-Sozialen, Liberalen, Rechtspopulisten und Pseudosozialdemokraten einen richtigen Schnapsideen-Wettbewerb in der Verschärfung sozialer Leistungen nach dem Motto: „Darf´s a bisserl weniger sein?“ Wie bereits seinerzeit unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer bzw. unter Tony Blair begegnen wir dreister neoliberaler Abzocke der kleinen Leute in verschiedenen Parteifarben. Ideologie-, Anstands-, Scham- und Tabugrenzen zerrinnen bei den neoliberalen Bannerträgern aller Parteien wie Butter in der Sonne. Die Hegemonie neoliberaler Politikkonzepte macht aus vormals ideologisch ausdifferenzierten Parteien längst eine postmoderne Einheitspartei, die dem übergeordneten Ziel der Errichtung eines „Sozialismus der Reichen“ (Noam Chomsky) dient.

Verkehrte Robin Hoods

Mit zelotischem Eiferertum kreist die neuerliche Sozialschmarotzerdebatte um Kürzungen, Einschränkungen und Streichungen sozialstaatlicher Leistungen. Wie verkehrte Robin Hoods – take from the poor and  give to the rich – zwacken die neoliberalen Gralshüter an allen Ecken und Enden des Sozialstaates jeden Euro ab. Ausgerechnet die überaus wohlhabende Familienministerin Karmasin forderte die Deckelung der Mindestsicherung für Familien in der Höhe von monatlich 1.500,–. Sie müsste wissen, dass Familien in Österreich mit 1.500,– niemals auskommen, wenn wir allein an die Wohnungskosten, an Kosten für Schule und Berufsbildung in den Städten denken. Vizekanzler Mitterlehner machte indes Karmasins „Deckelung“ zur offiziellen Parteilinie christlich-sozialer Politik.

Medienstimmen zur Deckelung der Mindestsicherung für Familien

Vizekanzler Mitterlehner erklärt Deckelung der Mindestsicherung zur ÖVP-Parteilinie

Außenminister Sebastian Kurz forderte Ein-Euro-Jobs für AsylwerberInnen zur Leistung von gemeinnütziger Arbeit. Er müsste freilich wissen, dass es dafür längst auf ordentlicher BAGS-KV-Basis bezahlte Jobs am 2. und 3. Arbeitsmarkt gibt, deren Anzahl mit entsprechendem öffentlichen Mitteleinsatz jederzeit bedarfsgerecht ausgebaut werden kann.

Sebastan Kurz fordert Ein Euro Jobs für Flüchtlinge

Die WK in Tirol und Oberösterreich ermunterte ihre Unternehmer gar, „Arbeitsunwillige“ an die WK zu melden, um sodann über das AMS gegen sie vorzugehen. Laut ORF online nimmt AMS-Vorstand Johannes Kopf „das Angebot der Wirtschaftskammern in Tirol und Oberösterreich dankbar (sic!) an, dass unmotivierte Arbeitssuchende gemeldet werden“, sagte er im Ö1-Mittagsjournal.

WK OÖ und Tirol rufen Unternehmen auf, Arbeitsunwillige zu melden

Der Regierungspartner SPÖ, seit Jahrzehnten sozial- und arbeitsmarktpolitisch ausgehöhlt wie ein steirischer Kürbis rund um Halloween, hatte naturgemäß keine substanziellen Gegenkonzepte vorzulegen. Der neue Bundeskanzler Christian Kern besaß sogar die Chuzpe, Alfred Dallingers zukunftsweisende Idee einer Wertschöpfungsabgabe als „Maschinensteuer“ zu verkaufen, was an Tollpatschigkeit kaum überbietbar ist! Überdies hätte der Bundeskanzler wissen können, dass die ÖVP einer zusätzlichen Steuer nicht zustimmen würde, sondern im besten Fall eine andere Steuer zu senken bzw. zu streichen ist. Das Dumme an der Wertschöpfungsabgabe wie auch an der Finanztransaktionssteuer besteht darin, dass diese finanzpolitischen Instrumente Dummköpfen kaum zu vermitteln sind, weshalb sie sich umso besser für ideologische Scharmützel eignen.

Bundeskanzler Kern fordert Maschinensteuer und meinte Wertschöpfungsabgabe

Die Bundesregierung wie auch einzelne Landesfürsten übertrafen sich im Wettbewerb des Downsizens unseres Sozialstaates. Thomas Rossacher hielt anlässlich der Kürzung der Mindestsicherung in der Steiermark fest: „Gewinnen wird die Koalition mit der Novelle dennoch keinen Blumentopf. Pro Kind 8,37 Euro an Mindestsicherung monatlich zu kürzen, das wird kein Budgetproblem lösen. Nur weil es unterm Strich einigen sozial Schwachen künftig schlechter gehen wird, geht es Tausenden anderen nicht besser.“ (Kleine Zeitung v. 1.9.2016, S. 11.)

Wo bleibt das Eiferertum bei der versprochenen Finanztransaktionssteuer?

Das von David Cameron nach Europa exportierte Eiferertum im Downsizen sozialer Leistungen für die kleinen Leute fehlt am oberen Ende der Einkommensverteilung zur Gänze. Wir erinnern uns: Angela Merkel wie auch unsere Bundesregierung schworen nach dem Börsencrash 2008 hoch und heilig, eine bescheidene Finanztransaktionssteuer in zumindest 10 EU-Staaten einzuführen.

Die Presse berichtet über das Vergeigen der Finanztransaktionssteuer

Spiegel online über das Scheitern der Finanztransaktionssteuer

Der zu lukrierende Betrag stand sogar schon im Bundesbudgetvoranschlag der vormaligen Finanzministerin Maria Fekter. Doch dieses wichtige finanzpolitische Instrument wurde von den europäischen Oligarchen flugs abgewürgt. Seit Jahrzehnten zerschellen in Europa Wertschöpfungsabgaben, höhere Erbschaftssteuern, die angemessene Besteuerung multinationaler Konzerne, das Stopfen von Steuerfluchtlöchern, die Austrocknung von Steuerparadiesen oder eine höhere Besteuerung von größeren Grundstücken am übermächtigen Willen des europäischen Millionärsklubs. Neoliberalismus – so Stefan Schulmeister – sei jene Krankheit, für deren Therapie er sich hält. In Anbetracht der neuerlichen Hatz auf Sozialschmarotzer und Arbeitsscheue kann getrost von einer schweren Geisteskrankheit mit weitreichenden Folgewirkungen gesprochen werden: Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt, Rassismus und politischer Extremismus werden zunehmen. Front national, Jobbik, AfD, FPÖ und andere extreme Gruppierungen eilen europaweit von Wahlsieg zu Wahlsieg. Welche Regierungen werden durch all diese Entwicklungen in tätige Sorge versetzt? Können die Regierenden in Europa Zusammenhänge zwischen Massenarbeitslosigkeit, Armut, prekärem Wohlstand und dem erdrutschartigen Vormarsch von politischen Extremisten in Europa herstellen? Wissen die Regierenden in Europa noch, wie Massenarbeitslosigkeit, verknüpft mit rudimentären Systemen der sozialen Sicherheit, zum Aufstieg von Faschismus und Stalinismus beigetragen hat? Es ist Zeit, ein demokratisch legitimiertes Umdenken für einen vitalen europäischen Wirtschafts- und Sozialstaat europaweit und visionär zu entwickeln, solange es noch unsere Demokratie gibt! Christian Ehetreiber

Links

Rezension zum Buch “Solidarität” von Michael Landau

Der Standard über Sebastian Kurz Forderung nach Ein Euro Jobs

Sebastan Kurz fordert Ein Euro Jobs für Flüchtlinge

Reaktionen auf die Forderung nach Ein Euro Jobs in den SN

Reaktionen auf die Forderung nach Ein Euro Jobs im Standard

Medienstimmen zur Deckelung der Mindestsicherung für Familien

Vizekanzler Mitterlehner erklärt Deckelung der Mindestsicherung zur ÖVP-Parteilinie

Medienstimmen zur Deckelung der Mindestsicherung für Familien

Vizekanzler Mitterlehner erklärt Deckelung der Mindestsicherung zur ÖVP-Parteilinie

Cameron setzt Notbremse bei Sozialleistungen gegen die EU durch

Stephan Schulmeister über Europas Weg in die neoliberale Depression

Die Presse berichtet über das Vergeigen der Finanztransaktionssteuer

Die Presse berichtet über das Vergeigen der Finanztransaktionssteuer

Spiegel online über das Scheitern der Finanztransaktionssteuer

Werner Faymann offen für Kürzungen bei Familienbeihilfe